2 ➸ Alkohol und Schmerz

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Als Luca schließlich das Badezimmer erreichte und sich aufraffte, um in den Spiegel zu schauen, erschrak er.

Seine sonst so gepflegten Haare standen in alle Richtungen ab und waren so verdreckt, dass er seine hellblonde Haarfarbe gar nicht mehr erkennen konnte. Allgemein war er sehr schmutzig, sein T-Shirt war überzogen mit Blut und Erbrochenem. Das Blut klebte an seinem Körper wie eine zweite Haut.

Angewidert zog er sich das Shirt über den Kopf und pfefferte es auf den Boden. Dann warf vorsichtig einen sehnsüchtigen Blick zu seiner Dusche. Kurz entschlossen erledigte er sich auch seinen restlichen Klamotten, öffnete die milchige Duschtür und griff nach dem Duschkopf.

Er hatte noch nie so viel Zeit in der Dusche verbracht. Das warme Wasser auf seiner Haut belebte ihn wieder, auch wenn es ihm verdammt schwerfiel, seinen Hals nicht nass zu machen. Luca wusch seine Haare extra ohne Shampoo, damit nichts davon in seine Wunde kommen würde, denn auch so brannte und zog sie immer noch. Als ihm durch die Hitze wieder Punkte vor den Augen flimmerten, machte er das Wasser aus und stieg vorsichtig aus der Dusche.

In sein großes Duschhandtuch gewickelt ließ er sich schließlich mit einem kleinen Seufzer auf seiner zugeklappten Toilettenbrille nieder. Immerhin fühlte er sich jetzt sauber und dadurch ein kleines bisschen besser.

Luca schloss seine Augen und versuchte einen Moment seine Probleme auszublenden, aber der Schmerz in seinem Nacken ließ dies nicht zu. Trotzdem trieb er für einen kurzen Moment in Sorglosigkeit.

Irgendwann wurde ihm kalt, da er sich nicht richtig abgetrocknet hatte. Zudem brummte sein Magen unangenehm und er hatte tierischen Durst.

Schwerfällig stand er auf, schlang das Handtuch enger um sich und schaute zur Tür.

»Eins, zwei.«

Das Badezimmer hatte er hinter sich gelassen.

»Drei, vier, fünf.«

Jetzt hatte er sein Wohnzimmer durchquert, um an seinem Kleiderschrank zu stehen. Wahllos griff er nach einer Jogginghose und einem T-Shirt. Die Hose anzuziehen, war kein Problem, aber dafür hatte er mit dem T-Shirt ganz schön zu kämpfen. Er hatte das Gefühl, als würde er sich die Wunde wieder aufreißen, wenn sie überhaupt schon ein wenig angefangen hatte zu heilen.

Instinktiv glitt sein Blick zu seinem unordentlichen Couchtisch, der zugemüllt und verdreckt war. Aber zwischen diesem Chaos konnte er eine Flasche Wodka ausmachen.

»Sechs, sieben.«

Er nahm sich die Flasche, schraubte sie auf und stockte. Sollte er zurück ins Badezimmer gehen und versuchen, sich die Wunde anzuschauen? Zögernd schaute er auf die Flasche in seiner Hand. Es würde brennen wie hölle. War es überhaupt sinnig, es mit billigem Wodka zu versuchen? Sollte er nicht vielleicht lieber Desinfektionsmittel aus der Apotheke, nicht unweit von seiner Wohnung, besorgen? Nein, Alkohol bleibt Alkohol, beschloss er und biss die Zähne zusammen.

Als er die Flasche hochhob und ungewollt den Duft einatmete, ließ er sie reflexartig zu seinem Mund gleiten und trank drei tiefe Schlucke.

Dann atmete er wieder tief durch und brachte die Flasche über seinem Nacken in Position.

Luca biss sich auf die Lippen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken, als die Flüssigkeit auf die Wunde traf. Schwarze Punkte fingen an vor seinen Augen zu tanzen und er musste sich gezwungenermaßen hinsetzen. Als er seinen Schwindelanfall so weit überstanden hatte, trank er wieder zwei Schlucke und fühlte sich wie betäubt. Zwar merkte er, dass seine Wunde pochte, aber in seinem Kopf kam kein Schmerz an.

Seinen Hunger hatte er auch vergessen. Stattdessen fühlte Luca sich einfach nur ausgelaugt und müde. Er warf einen Blick zu dem Sofa. Es war näher als sein Bett im Schlafzimmer. Allerdings war das Sofa getränkt mit seinem Blut und auf dem Boden davor lag auch noch sein Erbrochenes, dort wollte er nicht schlafen.

Schwerfällig erhob er sich wieder von dem Boden, die halb volle Wodkaflasche umklammerte, und machte sich auf dem Weg zu seinem Schlafzimmer.

»Eins.«

Luca stockte. Er wusste nicht, wie weit er schon gezählt hatte, wie oft er schon gelaufen war. Grimmig umklammerte er die Flasche stärker und musste sich zusammenreißen sie nicht mit einem wütenden Schrei gegen die nächste Wand zu schleudern. Er knirschte mit den Zähnen und ging, ohne die Schritte zu zählen in sein Schlafzimmer.

Kaum hatte er sein Bett erreicht, sich vorsichtig darauf niedergelassen, schlief er noch mit der Flasche in der Hand ein.

***


Als Raven merkte, dass er sich nicht mehr bewegte, schloss sie den Leder gebundenen Tablet Schutz. Er hatte zwar noch keine 20 Schritte gemacht, aber trotzdem war Raven immer noch mulmig zumute. Gleich wollte ihr Vater sie sprechen, um ihr noch genauere Regeln zu geben. Wie viele Schritte er am Tag machen sollte, wann sie ihn bestrafen sollte, wenn er zu wenig ging. An sich wäre es kein Problem, mit ihrem Vater allein zu sprechen, aber es würde auch andere Gangmitglieder dabei sein. Ravens Hände zitterten, als sie das Tablet in ihre Handtasche gleiten ließ.

Sie hatte nie darum gebeten der Gang, in der ihr Vater ein hohes Tier war, beizutreten. Irgendwie war sie da hereingerutscht. Seit ihre Mutter gestorben war, hatte sie sich für die Gang interessiert, einfach weil sie sich ablenken wollte, etwas mehr mit ihrem Vater unternehmen wollte, einfach ihre Familie um sich haben wollte. Sie hatte nämlich nur noch ihren Vater. Aber jetzt bereute sie es. Ihr Vater hatte zu viel in ihr Interesse hineininterpretiert. Und jetzt, wo sie einiges über die Gang erfahren hatte, konnte sie nicht einfach verschwinden. Entweder sie würde komplett beitreten oder sie würde noch so enden wie Luca.

Raven umklammerte den Gurt ihrer Handtasche fester. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Vater es zulassen würde, dass man mit ihr auch so sadistisch umgehen würde. Den eigentlichen Kopf der Gang hatte sie noch nie gesehen, und wenn sie ehrlich war, wollte sie das auch nicht.

Noch einmal atmete Raven tief ein und aus. Gleich würde es losgehen. Sie würde auf andere Gangmitglieder treffen, die mit Schuld daran waren, dass Luca jetzt sein Ende programmiert hatte. Die anderen würden sich über ihn lustig machen, ihn auslachen und sie musste zumindest so tun, als ob ihr alles egal wäre. Wenn sie merken würden, dass sie Mitleid mit ihm hatte, hätte sie die Aufnahmeprüfung nicht bestanden. Und sie wollte nicht wissen, was das bedeutete.

Sie machte einen Schritt Richtung Tür und wollte sich nicht vorstellen, wie es für Luca war. Zu wissen, dass jeder Schritt zu den Letzten 100.000 seines Lebens gehört. Schnell schüttelte sie ihren Kopf. Sie sollte jetzt nicht an ihn denken. Raven musste sich jetzt konzentrieren. Als sie den Blick hob und sich im großen Spiegel an ihrer Tür sehen konnte, erschrak sie.

Ihre blauen Augen wirkten stumpf und ausdruckslos, sie hatte tiefe Augenringe und ihre schwarzen kurzen Haare, die eigentlich immer gut lagen, hatten ihr den Krieg erklärt. Sie war sich unbewusst zu oft durch die Haare gefahren.

Panisch ließ Raven ihre Handtasche zu Boden gleiten und lief zu ihrem Schminktisch, um wenigstens etwas zu retten. Sie hatte keine fünf Minuten mehr. Schnell hatte sie ihre Haare gekämmt und sich zumindest etwas Concealer unter die Augen geschmiert, dann klopfte es schon laut an ihrer Tür.

»Raven!«, schrie ihr Vater und Raven ließ vor Schreck den Concealer aus ihrer Hand fallen.

»Ich komme sofort!«, rief sie zurück und schaute sich noch ein abschließendes Mal im Spiegel an. Sie wirkte viel zu nervös, aber sie könnte behaupten, dass es an ihrer Aufnahmeprüfung lag.

Dann sprang sie von dem Stuhl auf, schnappte sich ihre Tasche, atmete wieder tief ein und aus und öffnete schließlich die Tür.

Ihr Vater schaute sie schon ungeduldig an.

»Na komm, du willst doch nicht zu deiner ersten richtigen Versammlung zu spät kommen.«

Ihr Vater klang fast sanft zu ihr. Er schien schon fast stolz auf sie zu sein. Während er vorging, folgte sie ihm schweigend.

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