1 ➸ 100.000 Schritte

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Raven starrte auf den Bildschirm vor sich. Gerade als sie den Mund öffnen wollte, um zu fragen, was sie damit sollte, hörte sie die Stimme ihres Vaters.

»Du weißt, was mit Luca Stevens passiert ist, oder? Deine Aufnahmeprüfung besteht darin, Luca zu überwachen. Je nachdem wie er sich benimmt, wirst du den Knopf drücken. Genauere Infos bekommst du bei der nächsten Versammlung. Du darfst mich begleiten.«

Raven hörte der Stimme ihres Vaters zu, aber trotzdem konnte sie nur auf die Zahlen, die auf dem Bildschirm vor ihr prangten, schauen. 100.000. Er hatte sich noch nicht bewegt. Raven war zwar nicht bei der Operation, wenn man es überhaupt so nennen konnte, gewesen, aber sie wusste, dass mit Verrätern nicht gerade zimperlich umgegangen wurde. Wahrscheinlich war er bewusstlos, allein in seiner Wohnung, wo man ihn überrascht hatte.

»Hast du verstanden Raven?« Hart gruben sich die Hände ihres Vaters in ihre Schultern, als er sie zwang, zu ihm aufzuschauen.

»Ja Vater!«, sprach sie mit aller Überzeugung, so, wie er es ihr beigebracht hatte, obwohl ihr diese Aufgabe ganz und gar nicht gefiel.

»Gut, wenn er sich in den nächsten zwei Stunden nicht bewegt, dann gib ihm einen kleinen Stromstoß«, er klopfte ihr anerkennend auf die Schulter, als hätte sie gerade ihre Abschlussprüfung mit der bestmöglichen Note bestanden. Dann drehte er sich um und ließ sie allein.

Unwohl schaute Raven ihm hinterher, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann lief sie zu ihrem riesigen Himmelbett und ließ sich langsam darauf sinken, den Blick immer auf das Stück Technik in ihrer Hand. Links auf dem Bildschirm konnte sie die Schrittanzahl sehen, die er noch machen konnte. Rechts daneben war eine GPS-Angabe, die ihr zeigte, dass er sich zurzeit in seiner Wohnung aufhielt. Und darunter war das, was ihr am meisten Angst machte. Sie konnte ihm einen Stromstoß verpassen. Dafür müsste sie nur einstellen, wie stark er sein sollte und den Auslöser rechts unten in der Ecke betätigen. Wenn sie das maximum einstellen würde, würde er sterben. Das sollte sie tun, wenn er seine 100.000 Schritte aufgebraucht hatte.

Schluckend legte Raven das Tablet neben sich. Zwei Stunden hatte ihr Vater gesagt. Ihre Hand zitterte, als sie ihr Handy herausholte, um die Uhrzeit zu erfahren. Es war gerade zehn Uhr am Morgen.

***


Aussteigen. Alles, was er gewollt hatte, war aussteigen.

Luca biss sich auf seine Lippe und starrte in die Leere. Mittlerweile war es wieder hell geworden. Er konnte sein Blut und das Erbrochene auf dem Boden riechen, aber trotzdem bewegte er sich nicht. Nicht mit dem Wissen, das jeder Schritt, den er jetzt gehen würde, zu den letzten 100.000 seines Lebens gehören würde.

Joel. Er würde so enden wie Joel. Wimmernd grub er seine Hand in die alten Teppichfasern.

Er hätte es nicht riskieren sollen. Er hätte einfach weiter stumm den Befehlen folge leisten sollen.

Sein Magen grummelte und ihm war immer noch schlecht. Sein Nacken brannte wie verrückt, seine Nase pochte wie wild und seine Rippen ächzten. Er seufzte und hob vorsichtig seinen Kopf. Luca konnte nicht sagen, wie lange er jetzt schon vor seinem abgenutzten Sofa lag. Seine Zweizimmerwohnung gruselte ihn immer mehr. Zwar hatte er sich hier noch nie heimisch gefühlt, aber immerhin sicher. Er blinzelte ein paar Mal, da sich ein Film auf seinen Augen gebildet hatte, und schielte dann zur großen Uhr in seinem Rücken. Allein den Kopf leicht zu drehen, verursachte ihm höllische Schmerzen.

Luca gab den Versuch auf und starrte auf die ehemals weiße Decke, wo sich hier und da der Putz löste.

Was für eine Scheiße, der Gedanke schoss ihm durch den Kopf und er ballte seine Hände zu Fäusten.

Doch so ganz konnte er noch nicht realisieren, was eigentlich alles passiert war. Es ging alles so schnell. Einen kurzen Moment hatte er die Hoffnung alles vielleicht nur zu träumen, aber die Schmerzen waren so stark, dass er unmöglich träumen konnte. Seufzend lockerte Luca seine rechte Hand und strich sich durchs Gesicht, dann konnte er sich ein Schluchzen nicht verkneifen.

Sein Leben war zu Ende. Er hatte keine Möglichkeit dem Ganzen zu entfliehen, dafür hatten sie gesorgt.

100.000 Schritte. Wie lange könnte er noch leben, wenn er sie sich einteilen würde? Normalerweise hätte er sie in maximal zwei Wochen gemacht, da er täglich joggen ging, aber das hatte sich jetzt erledigt.

Er holte tief Luft und setzte sich behutsam auf. Trotzdem tanzten schwarze Punkte in seinem Blickfeld. Luca schloss seine Augen, lehnte sich seitlich an die Lehne des Sofas und atmete tief ein und aus, bis ihm nicht mehr schwindelig war.

Er müsste sich einen Plan machen, wie viele Schritte er pro Tag machen würde, was er noch alles machen wollte. Sollte er sich eine Löffelliste machen? Kurz schossen ihm Dinge durch den Kopf, die er noch machen wollen würde, aber dann seufzte er und wollte instinktiv seinen Kopf schütteln. Zischend stoppte er, als sein Nacken unangenehm zog. Er öffnete wieder seine Augen und starrte ins Leere. Hatte es überhaupt noch einen Zweck weiter zu machen? Nur damit sich die Typen aus der Gang noch über ihn lustig machen können?

Luca ballte seine Fäuste und verwarf den Gedanken sofort wieder. Viel zu sehr liebte Luca sein Leben, als dass er es sich selbst nehmen könnte.

Vorsichtig kämpfte er sich auf seine Beine und stütze sich krampfhaft an der Lehne des Sofas ab. Seine Beine zitterten, als er einen Schritt nach vorne machte.

»Eins.«

Unwohl schluckte Luca und schaute zu der Tür, die ins Badezimmer führte.

»Zwei, drei.«

Er musste die Lehne des Sofas loslassen und schwankte mehr weiter, als dass er wirklich Schritte machte. Dann sackte er auf seine Knie. Er versuchte sich gar nicht erst wieder auf die Beine zu kämpfen, stattdessen krabbelte er Richtung Badezimmer und fragte sich, wie die Schritte beim Krabbeln gezählt werden würden.

***


Fasziniert starrte Raven die Zahlen des Counters an. Er hatte drei Schritte gemacht. Gerade noch rechtzeitig, keine zehn Minuten später und sie hätte ihm einen Stromstoß verpassen müssen. Erleichtert seufzte sie und ließ sich entspannt in ihre Kissen fallen. Die letzten zwei Stunden hatte sie nur angespannt auf die Anzeige gestarrt. Es kam ihr so unwirklich vor, dass sie sein Leben in den Händen hielt. Und er wusste noch nicht einmal, dass er überwacht wurde. Er wusste nicht, dass er Stromstöße bekommen würde, wenn er sich nicht mehr bewegen würde.

Wahrscheinlich würde er versuchen sich so wenig wie möglich zu bewegen, aber sie würde ihm diese Hoffnung nehmen müssen.

Sobald sie einmal das Tablet verwenden würde, hätte er bestimmt noch mehr Angst.

Raven schloss schluchzend ihre Augen und schob das Tablet weit von sich. Heute wollte sie nicht mehr daran denken.

Counter ➵ LeseprobeWhere stories live. Discover now