Während die Empfangskraft den Polizeichef Petr Nemec, wie er sich mir kurz angebunden vorgestellte, über mich und mein Anliegen aufklärte, musterte ich ihn verstohlen. Er war ungefähr in meinem Alter, also Mitte zwanzig oder kurz vor den Dreißigern, und somit ziemlich jung für einen Chef der Polizei. Seine Augen waren von einem hübschen Grün, obwohl er grimmig dreinblickte, was gar nicht zu dem attraktiven Gesicht mit den kurzen, sandfarbenen Haaren passen wollte.

Sein ansprechendes Äußeres mit breitem, durchtrainiertem Körper war nicht der einzige Grund – gut, ein kleines bisschen –, ihn so ungeniert anzustarren. Vielmehr war es die Narbe auf seiner linken Gesichtshälfte. Die dickliche Linie zog sich seitlich von seinem Auge über die Wange bis hinunter zum Kinn und sah auffallend nach einer Krallenwunde aus. Sofort hatte ich wieder die Erzählung von gestern Abend im Kopf, von dem dreijährigen Jungen, dessen Familie abgeschlachtet worden war.

In diesem Moment wandte sich Petr mir zu, was meine Gedanken verpuffen ließ, da er mich viel zu intensiv musterte. „Vom FBI also. Dann hat dieser Fall sogar bei den Amis für Aufmerksamkeit gesorgt und Sie in unsere Stadt geführt."

Er sprach es wie eine Zusammenfassung aus, aber ich konnte die Skepsis in seinen Augen erkennen. Dennoch hatte er ein Einsehen und nickte, als ich mich verschwörerisch zu ihm beugte. „Ja, wir halten immer unsere Augen und Ohren offen und blicken über unsere Grenzen hinaus. Dürfte ich die Daten bitte so schnell wie möglich durchsehen? Es ist eine persönliche Sache des Außenministers, der das FBI hinzugezogen hat, weil der verschwundene Junge der Sohn seiner Freunde ist. Wenn Sie verstehen ..."
„Oh ja, natürlich, ich verstehe. Kommen Sie mit."

Keine zwei Minuten später schritt er den Gang der Polizeistation entlang, dicht gefolgt von meiner übermotivierten Wenigkeit. Hätte ich es gekonnt, hätte ich ihn sogar noch angeschubst, damit er schneller ging. Ich musste mehr Information bekommen, die Kinder waren schon viel zu lange in den Händen einer möglichen Bestie.

Mit seinen nächsten Worten riss er mich aus den Gedanken: „Sie sehen ziemlich jung aus für einen Special Agent, Miss Johnson."
„Das Gleiche könnte ich von Ihnen behaupten, Mister Nemec. Das zeugt von unserem Können, finden Sie nicht?"
Wenn er mich einschüchtern oder mir auf den Zahn fühlen wollte, musste er sich schon etwas Besseres einfallen lassen.
„Da gebe ich Ihnen vollkommen recht", antwortete er stattdessen großspurig und ich konnte sehen, wie ernst er das meinte. Er war von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt, und das war der erste Fehler in einem Beruf, in dem es um Leben und Tod ging.

Ich wusste, wozu ich in der Lage war, wobei ich gut war, dennoch kannte ich genauso gut meine Schwächen. Deswegen würde ich mich nie auf meinen Lorbeeren ausruhen, man musste immer auf der Hut sein und weiter an sich und seinen Fähigkeiten arbeiten. Selbstüberschätzung oder Eitelkeit wie diese konnten nur in die Hose gehen und zwar richtig, richtig tief.

Aber ich wollte es mir nicht mit dem Polizeichef verscherzen, also zeigte ich mein gewinnendstes Lächeln, was seine Augen kurz zum Leuchten brachte.
Erwischt, den habe ich ebenfalls am Haken.

Manchmal war es schon fast zu einfach. Vielleicht konnte ich ihn anschließend zu dem früheren Fall ausquetschen, falls er etwas von damals wusste.

Noch während ich über mein weiteres Vorgehen nachdachte, blieb Petr endlich kurz vor einer Abbiegung stehen und sperrte eine unscheinbare graue Tür im Korridor auf, um sie nach innen hin zu öffnen. Bevor ich eintrat, hörte ich eine mir viel zu bekannte Stimme, die schnell näher kam. Sein tiefes, wohliges Lachen hallte durch den Flur, was mir einen warmen Schauer über den Körper jagte. Ein Laut, bei dem man sich am liebsten räkeln wollte – nackt und zwischen seidenen Bettlaken.
Jess! Tu das nicht, tu das nicht, konzentriere dich einfach auf deine Aufgabe, raunte mir die rationale Stimme in meinem Kopf zu. Doch meine emotionale Seite war schon immer stärker gewesen.

Deswegen blieb ich einen Moment länger als nötig stehen und spähte über die breiten Schultern des Polizeichefs, als ein weiterer Polizist und der Pfarrer um die Ecke kamen. Sie bogen in die entgegengesetzte Richtung ab, dennoch hörte ich kurz auf zu atmen. Bei direktem Licht am Tag sah Matej sogar noch besser aus als in meiner Erinnerung in der Kirche. Dunkles Haar, kantiger Kiefer und ein gut gebauter Körper, versteckt unter seiner Pfarrerkutte.

Sobald das kurze Schmachten beendet war, kam mein Verstand ratternd wieder zum Einsatz. Warum war er hier? Hatte er mich angezeigt, weil ich ihm ein kleines Nickerchen in seiner Kirche verschafft hatte? Ich grübelte darüber nach, als ich sah, dass Matej plötzlich stehen blieb und den Kopf in unsere Richtung drehte. Flink wie meine Frettchen schlüpfte ich durch die offene Tür, mit dem Wissen, dass er mich nicht mehr hatte sehen können. Wofür ich einen ziemlich verwirrten Blick von Petr abbekam. Auch egal. Wenn er mich für etwas verrückt hielt, würde er mir während meiner Nachforschungen nicht auf die Pelle rücken, sondern mich allein lassen.

Der Raum, den wir betraten, war klein wie eine Besenkammer, alles in diesem tristen Grau oder altem Weiß gehalten: Tisch, Stuhl, Aktenschränke – sonst gab es hier nichts. An der Decke hing eine einzelne Glühbirne, die gerade genug Licht abgab, um am Tisch sitzend lesen zu können. Der Sessel quietschte über den Boden, als ich ihn zurückschob, um mich zu setzen.

Währenddessen zog Petr bereits einige Aktenschubladen auf und zu, holte verschiedene Mappen sowie einen Datenchip hervor und ließ schließlich alles mit einem dumpfen Geräusch auf die Tischplatte vor mir fallen.
„Vielen Dank."
„Bitte schön. Ich habe noch an anderen Fällen zu arbeiten, daher kann ich nicht bleiben. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie fertig sind, Miss Johnson."
Träum weiter.
„Selbstverständlich."
Ich sah freundlich zu ihm hoch und nickte ergeben.

Sobald ich alle Informationen hatte, die ich hier finden konnte, würde ich nur mehr eine Rauchwolke, eine ferne Erinnerung sein. Statt gleich zu gehen, wie ich erwartet hatte, blieb er an Ort und Stelle. Er bewegte sich nicht, musterte mich lediglich mit schmalen Augen, als ahnte er, dass ich gelogen hatte. Oder hielt er dieses kleine Büro mit dem kargen Licht etwa für romantisch und wartete darauf, dass ich einen ersten Schritt tun würde? Da konnte er lange warten.

„Wissen Sie, dass Sie eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Beschreibung einer Frau haben, die gestern Abend zwei Leute vermöbelt hat? Der Mann hat eine angeknackste Rippe, eine Gehirnerschütterung sowie eine gebrochene Nase und die Frau gebrochene Finger und mehrere Prellungen."

Am liebsten hätte ich erwidert, sie können froh sein, nicht noch mehr Brüche zu zählen und dass dem Typen nicht der Schwanz abgeschnitten wurde. Damit hätte ich mich jedoch verraten, daher schluckte ich die Worte hinunter.

„Faszinierende Geschichte, und das alles in so einer sicheren kleinen Stadt wie der Ihren? Diese Frau würde ich zu gern einmal kennenlernen", entgegnete ich mit großen Augen, konnte ein Lächeln nicht gänzlich unterdrücken. Ich hatte keine Ahnung, ob ich mich verraten hatte oder was der Polizeichef von mir dachte. Seine Miene verriet nichts, als er antwortete: „Ich auch, ich auch. Würden Sie vielleicht mit mir Essen gehen?"

Hoppla, damit hatte ich allerdings nicht gerechnet. Unter normalen Umständen hätte ich sofort abgelehnt. Kurze Abenteuer mit neugierigen Männern in solch einer nicht gerade geringen Machtposition konnten brenzlig werden, wenn ich im Nachhinein einfach verschwand. Aber hier hatte ich es mit dem eventuellen Opfer der vielleicht selben Bestie zu tun und ich konnte noch einige Antworten gebrauchen. Zusätzlich war er ganz hübsch anzusehen und gegen ein gratis Essen war nichts einzuwenden.

Ich wollte nicht zu eifrig wirken. „Gut. Ich habe heute und morgen zu tun. Wie wäre es mit Montagabend um acht Uhr?", bot ich an.
„Sehr gerne. Ich werde einen Tisch im Restaurant Vila Elis reservieren. Ich nehme an, Sie wollen sich direkt dort treffen, anstatt abgeholt zu werden?"
„Richtig erkannt. Das wäre am praktischsten. Danke."

Er reichte mir die Hand und verabschiedete sich, nachdem wir unsere Nummern getauscht und ich seine in meinem HandChip gespeichert hatte.


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MONSTER GEEK: Die Gefahr in den WäldernOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz