Kapitel 6

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Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker um 6 Uhr. Ich hatte erstaunlich gut geschlafen. Dennoch trottete ich relativ müde ins Bad um mich fertig zu machen. Als ich mich danach in meinem Zimmer anzog, hielt ich kurz in der Bewegung inne während ich meinen Pullover überstreifte. Kurz betrachtete ich meinen Oberkörper und schüttelte dann leicht den Kopf. Marcel hatte ganze Arbeit geleistet. So schnell würde ich ihn nicht vergessen. Mit einem erneuten Kopfschütteln vertrieb ich die Gedanken an ihn aus meinem Kopf und zog mich an.
Ab heute würde ich mit dem Bus fahren. Ich war in meinem Leben noch nicht oft mit dem Bus gefahren und schon gar nicht zur Schule. Auf dem Internat war dies natürlich nicht nötig gewesen. Dennoch hatte ich schon einiges über das Fahren im Schulbus gehört. Eng, stickig und nervig, würden die meisten es beschreiben. Mir war es egal. Alles war besser als das Internat.
Als ich in die Küche kam saß meine kleine Schwester bereits am Tisch und aß verschlafen ihr Müsli. "Morgen", murmelte ich und lies mich ebenfalls am Tisch nieder. "Ah Stegi!", rief meine Mum gut gelaunt. Für meinen Geschmack etwas zu gut gelaunt für diese Uhrzeit. "Dein Vater hat gestern Abend noch angerufen. Ruf ihn doch heute nachmittag mal zurück, er wollte wissen wie's dir so geht." Ich seufzte. "Muss das sein?" Meine Mutter warf mir einen mahnenden Blick zu. "Ja, Stegi, das muss sein. Und das weißt du ganz genau!" "Okay, ist ja gut", murmelte ich, da ich wusste dass eine Diskussion zwecklos war.
Die Sache mit meinem Vater war immer etwas kompliziert gewesen. Ich war nie der Sohn gewesen den er sich wünschte. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich nie besonders sportlich oder kräftig war. Solche "typischen Männersportarten" wie Fußball oder Basketball hatten mich nie sonderlich interessiert. Ich bin mir bis heute nicht ganz sicher, ob dies auch der Grund war weshalb er mich nach meiner Grundschulzeit in das Internat gesteckt hat, oder ob es daran lag, dass er selber nie zu Hause war. Vielleicht wollte er meiner Mutter auch nicht zumuten, alleine zwei Kinder zu erziehen, denn kurz nachdem ich auf dem Internat war, hat er uns verlassen. Inzwischen lebte er mit seiner Neuen irgendwo in Italien. Meine Eltern waren trotzdem im Guten auseinander gegangen, weshalb meine Mutter mich auch ein bis zwei Mal im Monat zwang meinen Vater zurück zu rufen. Doch diese Telefonate liefen immer gleich ab, und ich hatte jedes Mal das Gefühl, er rief nur an, damit er kein schlechtes Gewissen hatte und ihm niemand vorwerfen konnte, dass er sich nie meldet.
Ich zog mir meine Jacke an und schnappte mir meinen Rucksack. "Tschüss!", rief ich noch bevor ich aus dem Haus ging. Die Bushaltestelle war knapp 2 Minuten entfernt. Ich steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren, vergrub die Hände in den Jackentaschen und lief los. Grade noch rechtzeitig erreichte ich den Bus und stieg ein. Augenblicklich kam mir stickige Luft entgegen. Ich zeigte dem Busfahrer kurz mein Ticket und lies meinen Blick dann durch den viel zu vollen und lauten Bus streifen. Ganz am anderen Ende sah ich Palle. Erleichtert Jemanden zu sehen den ich kenne, versuchte ich mich durch die Leute zu drängen, was mir eigentlich ganz gut gelang, bis ich auf einmal gegen eine große Gestalt stieß. "Sorry, darf ich mal dur.. Oh.." Natürlich war es niemand anderes als Tim, der sich in dem Moment umdrehte und mich anfunkelte. "Was zum.. Ach. Schau an. Wenn das nicht Stegi ist." Zum Glück hörte ich in diesem Moment Palle's Stimme. "Hey, Stegi, komm doch her" Ehe Tim noch etwas sagen oder machen konnte drängte ich mich an ihm vorbei und lies mich erleichtert neben Palle nieder. Dieser grinste mich an. "Alles klar?", fragte er woraufhin ich nickte.
Der Rest der Busfahrt verlief ruhig. Falls man es ruhig nennen konnte, wenn zu viele Schüler in einem zu kleinen Bus die ganze Zeit durcheinander redeten. Für mich war es etwas Neues und irgendwie auch Aufregendes, weshalb ich das Busfahren völlig in Ordnung fand.
Als wir an der Schule ankamen mussten Palle und ich uns trennen, da wir ja nicht in die selbe Klasse gingen, doch er versprach in den Pausen auf mich zu warten. Ich war ziemlich froh, dass Palle so nett zu mir war. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich ziemlich aufgeschmissen gewesen.
Der Tag begann direkt mit einer Doppelstunde Mathe. Als ich auf den Klassenraum zulief, hörte ich schon von Weitem lautes Gerede und Gelächter. Ich öffnete die Tür und augenblicklich wurde es still. Alle starrten mich an. Na toll. Mit gesenktem Blick lief ich zu meinem Platz vor Tim. Dieser warf mir nur den üblichen finsteren und teilweise auch spöttischen Blick zu. Ich konnte die Blicke meiner Mitschüler förmlich in meinem Rücken spüren. Erst als ich endlich auf meinem Platz saß, setzten die Gespräche wieder ein. Zu meinem Glück beachtete mich ab dann niemand mehr. Weder die anderen Schüler, noch Tim. Anscheinend hatte er tatsächlich vor mich in Ruhe zu lassen - zumindest, solange ich ihm nicht in die Quere kam.
Ab da verliefen die Schultage sehr angenehm für mich. Obwohl - wie Palle vorhergesagt hatte - sich tatsächlich fast jeder, mit Ausnahme von Palle, von mir fern hielt, gefiel es mir hier sehr gut. Klar, ich würde vielleicht nur einen einzigen Freund haben, aber immerhin ließ mich sonst jeder in Ruhe und niemand ärgerte mich. Außerdem genoss ich es sehr, nach der Schule nach Hause zu können, anstatt wie damals im Internat dann dort bleiben zu müssen. Die Nachmittage verbrachte ich meistens im Garten oder in meinem Zimmer, das ein oder andere Mal traf ich mich auch mit Palle.
Zum ersten Mal seit einer viel zu langen Zeit hatte ich wieder Hoffnung. Hoffnung, dass nun endlich alles besser werden würde.
Und tatsächlich lief alles gut. Doch dann kam der Tag, an dem ich das erste Mal Sportunterricht hatte...

Liebe oder Macht? ~ Stexpert FFWhere stories live. Discover now