Kapitel 24

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Wenn man es geschafft hat, die Angst zu vergessen, hat man sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Denn die Angst lässt einen niemals los, selbst wenn es manchmal so scheint. Sie wartet auf den passenden Augenblick, nur um dann zuzuschlagen und einen grausam zu zerfetzen.

*Taddls POV*

Mein Atem ging flach und schnell, als ich panisch das Gaspedal penetrierte.

Woher wusste er das?

Konnte es wirklich sein, dass ich es ihm erzählt hatte!?

Egal wie, er wusste zu viel.
Er hätte es niemals erfahren dürfen!
Er sollte doch nicht wissen, wer ich wirklich war! Er sollte nicht denken, dass ich so kaputt war! Und vor allem sollte er sich nicht wegen so etwas von mir abwenden. Wegen etwas, für das ich nichts konnte...

Es war schon so lange her. So lange...
Und ich wurde schon genug dafür bestraft.
Hatte schon mit genug Narben dafür büßen müssen.

Er hatte den Schlüssel gefunden.
Nein, ich hatte ihn ihm eigenhändig überbracht!
Den Schlüssel, der die Türe zu meiner Vergangenheit öffnete.
Die Türe, die seit Jahren verschlossen und verstaubt war, obwohl die leisen, immer währenden Schreie dahinter nie verstummten und mich Tag für Tag, Nacht für Nacht daran erinnerten, was ich getan hatte.

~ Sie streiten sich. Schon wieder. Genauso wie vor zwei Tagen. Seitdem ist mein Vater verschwunden, doch plötzlich höre ich seine laute Stimme wieder von unten. Und die meiner Mutter.
Leise stehe ich auf und tappe die Treppe hinunter. Das kalte Holz schmiegt sich an meine bloßen Füße und tut mir den Gefallen, nicht zu quietschen. Doch ehe ich unten ankomme, vernehme ich noch eine Stimme.
„Taddl?"~

Ein Zucken durchfuhr meinen gesamten Körper wie ein Stromschlag und ich riss die Augen erschrocken auf.
Da war sie, ihre Stimme.
Das letzte an mich gerichtete Wort, das ich von ihr gehört hatte.
So klar und deutlich neben meinem Ohr, als ob sie neben mir säße.
Doch da war nichts, außer dem leeren Beifahrersitz.

~Meine Schwester steht schläfrig hinter mir auf der obersten Stufe in ihrem Nachthemd und ich bedeute ihr, leise zu sein, doch sie schiebt sich einfach an mir vorbei und geht Richtung Küche, aus welcher die mittlerweile deutlichen Stimmen meiner Eltern dringen. Marie öffnet zögerlich die Türe und tappt ich den hellen Raum. Langsam folge ich ihr und bleibe hinter der schon wieder zugefallenen Türe stehen.~

Nein. Die Türe hatte sich wieder geöffnet.
Alle Erinnerungen strömten heraus und begannen mir den Kopf zu vernebeln.
Bitte nicht!
Haut ab!

~Das dämmrige Licht der Küchenlampe fällt durch den schmalen Türspalt und bescheint einen Teil meines Gesichts. Ganz leise kann ich die Dielen drinnen quietschen hören, weil mein Vater wankend da steht und immer wieder sein Gewicht vom rechten auf das linke Bein verlagert.
„Geh ins Bett, meine Kleine. Wir streiten uns nicht, wirklich.", vernehme ich nun die sanfte Stimme meiner Mutter, och ein Unterton schwingt darin mit, den ich nicht deuten kann.~

Ich keuchte auf.
Schweißperlen glitzerten auf meiner Stirn.
Mit zittrigen Fingern versuchte ich Halt an meinem Lenkrad zu finden.
Ich wollte mich nicht daran erinnern!
Nie wieder wollte ich daran erinnert werden!

~„Sie kann es ruhig wissen!", zischt nun mein Vater dazwischen. „Sie soll wissen, was ihre Mutter für eine billige Hure ist!" Ich zucke zusammen, da ich auf sein plötzliches Brüllen nicht vorbereitet bin. Seine Stimme klingt nicht wie sonst. Sie ist wütend und abwesend. Kratzig und leicht lallend. So, wie sie sich vor zwei Tagen auch angehört hat. Mein Blickfeld bietet nicht viel mehr als meine neben dem Tisch sitzende Mutter und ab und an erhasche ich einen Blick auf meine kleine Schwester, die weinerlich zwischen ihr und meinem für mich nicht sichtbaren Vater steht.
„Geh jetzt, Marie." Ein Rucken, ein Poltern, ein Schreien. Meine Schwester ist nicht mehr zu sehen.~

Ein leises Wimmern kam aus meiner ausgetrockneten Kehle und ich biss mir verzweifelt auf die Unterlippe.
Bitte!
Diese Bilder sollten verschwinden!

~„Du meine Güte, lass das Kind los!", schreit meine Mutter nun und springt auf.
„Sie sollte gar nicht existieren! Du hast kein Recht, Kinder von mir zu haben.", knurrt mein Vater nun bedrohlich und ich beginne, leicht zu zittern. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ein kalter Zug gen Treppenhaus schwindet. Ängstlich kralle ich mich an den Türrahmen, immer bedacht darauf, keinen Ton von mir zugeben.
Was passiert da?
Ich habe doch nur wissen wollen, warum sie sich schon wieder steiten!
„Mama..." Es ist nicht mehr als ein Wimmern meiner Schwester und ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigenn. Ich habe Marie schon oft weinen gehört, doch diesmal schwingt so eine enorme Angst in ihren Worten mit, dass mir augenblicklich schlecht wird.
Leise schiebe ich den Kopf noch ein wenig weiter vor, sodass ich nun auch halb meinen Vater erkennen kann.
Ein Schlag in die Magengrube.
Da steht sie. Meine kleine, wehrlose Schwester von seinem starken Arm brutal am Hals umschlungen, während ihr stille Tränen der Verzweiflung über die Wangen innen.
Da ist noch etwas.
Etwas blitzendes.
Metall.
Er hält ein Messer in seiner freien Hand.
Seine Augen sind glasig, doch seine Pupillen so klein, dass man sie kaum erkennen kann.
Ich habe Angst.
Er macht mir Angst!
Mein eigener Vater bringt mich zum zittern...
Und meine Schwester zum weinen.
Ich liebe sie doch so sehr! Sie ist mein kleiner Engel! Ein immer fröhliches, hilfsbereites, unschuldiges Mädchen, dass ich so sehr lieb habe!
Wieso tut er ihr weh?
Wieso lässt er sie nicht los?
Wieso tut meine Mutter nichts?
Wieso tue ich nichts!? Ich will ihr doch helfen! Ich will da hinein stürmen, meinen Vater wegstoßen und Marie schützend in die Arme nehmen!
Wieso bewegen sich meine Beine nicht?
Ich hab dich lieb, Marie! Ich will dir helfen! Du bist doch meine kleine Schwester!
Auch meine Mutter zittert. Auch sie bewegt sich nicht. Auch sie sagt nichts. Sie hat genauso große Angst wie wir alle.
Wieso haben wir Angst vor meinem Vater? Wieso ist er so?
„E-es war nur eine Nacht, eine bedeutungslose Nacht, bitte, bitte l-lass das Mädchen los...", stottert sie nun und ihre Stimme überschlägt sich.
„Nein.", haucht mein Vater kaum verständlich und meine Fingernägel bohren sich in das weiche Holz des Türrahmens.
„Du hast mich verlassen, dann wird sie nun dich verlassen."
Ein gellender, spitzer Schrei und die Augen meiner Schwester werden glasig.~

„NEIN!" Mein eigener Schrei vermischte sich mit dem, der noch in meinem Kopf hallte und ich trat ruckartig auf die Bremse. Ich wurde kurz nach vorne geworfen und meine verkrampften Arme konnten mich gerade noch abhalten, ehe ich oberhalb des Lenkrades aufgeschlagen wäre.
„Nein..." hauchte ich erneut, ehe die mittlerweile flimmernde Barriere vor meinen Augen brach und heiße Tränen heraus rollten.
Ein Schluchzen entwich mir und entkräftet ließ ich meinen viel zu schweren Kopf in die zitternden Hände sinken.

Es war meine Schuld.

Behind me ~ TardyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt