Kapitel 1

9 0 0
                                    

Still saß sie da am Rande des Flusses der Stadt. Leise und stetig flossen Tränen über ihre Wangen, tropften irgendwann in unregelmäßigen Abständen hinab und vermischen sich mit den Wassern der reißenden Strömung um sie herum. Ihr Körper zitterte unaufhaltsam und immer wieder konnte ich sehen, wie sie stoßweise nach Luft schnappte. Ihre Haare bedeckten ihr verweintes Gesicht.

Ich saß nur da und sah schweigend zu, was dort passierte, am anderen Ufer. Ich wollte ihr gerne helfen, ihr sagen, dass – egal was es ist – alles wieder gut wird und sie sich keine Sorgen machen musste. Doch ich konnte nicht. Die unüberwindbare Mauer aus Wasser hinderte mich daran.

Plötzlich bewegte sie sich. Sie sah auf und entdeckte mich. Kurz sah ich in ihren Augen, die die Farbe des trüben Flusses widerspiegeln, so etwas wie Erstaunen aufblitzen. Dann holte sie etwas aus Ihrer Tasche. Ich konnte nicht erkennen, was es war, denn sie beugte sich darüber und ihre langen Locken versperrten mir die Sicht. Sie sah erneut zu mir herüber und dieses Mal schrien ihre Augen still nach Hilfe. Sie öffnete ihre Hände und gab den Blick auf das frei, was sie zuvor noch vor mir versteckt hatte. Sie hielt einen kleinen, sauber zu einem Schiff gefalteten Zettel in der Hand. Sie beugte sich hinunter zum Wasser und legte das Boot behutsam auf die Oberfläche. Dann blickte sie nochmals kurz zu mir herüber und ging.

Ich sah ihr nach, so lange bis sie im frühen Morgengrauen verschwand. Auf dem Zettel stand eine Nachricht. So viel konnte ich aus der Entfernung erkennen. Langsam weichte das Wasser das Papier auf und die Worte liefen in den Fluss wie zuvor ihre Tränen.

Die Nachricht würde mich niemals erreichen. Der Fluss war durch eine durchsichtige Wand in der Mitte getrennt und sperrte die Geräusche und Gerüche der Anderen aus. Traurig schaukelte das Schiff am Rand dieser Wand. Immer wieder trieben die Wellen es auf sie zu. Doch immer wieder prallte es ab. Ich beobachtete es dabei.

Endlos schien dieser Kampf zwischen den Kräften der Natur und dem Widerstand, der von Menschenhand vor vielen Jahren erschaffen worden war. Beide ließen sie ihre Kraft an dem unschuldigen Schiff aus, dass sich mit Allem, was ihm noch blieb, versuchte zu wehren. Doch langsam saugte sich das Papier voll mit dem dreckigen Wasser des Flusses. Bald darauf trieb nur noch ein Haufen Schmutz ohne Bedeutung im Wasser auf und ab.

Langsam erhob ich mich. Mir schmerzten alle Glieder, als ob ich hier schon seit Anbeginn der Zeit sitzen würde. Dumpf hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Ich wollte noch nicht zurück, ich wollte nicht wieder zu den Anderen. Unsanft riss mich jemand an der Schulter zurück und zerrte mich zu den Jungen in den Bus.

Es war still. Stiller als sonst. Normalerweise scherzten ein paar von ihnen und das Lachen aus ihren Mündern durchbrach hin und wieder das leise Getuschel der Restlichen. Doch heute schien das Ganze vollkommen unangebracht.

Ich sah mich um und suchte mir einen Platz am Fenster. Fast alle um mich herum trugen ihre feinsten Klamotten und blickten gebannt auf das, was vor ihnen lag. Der Bus startete mit einem grässlichen Geräusch und ruckelnd fuhr er los in Richtung Verderben. Viele um mich herum waren aufgeregt, manche blickten so wie ich angespannt und nachdenklich aus dem Fenster.

Dieses Jahr waren wieder viele neue Gesichter unter ihnen. Mir fiel auf, dass viele von ihnen nicht viel älter als zwölf oder dreizehn waren. Sie waren zu jung. Sie wussten nicht worauf sie sich da einließen.

Doch das konnte ich nicht entscheiden. Die Regierung hatte das vor vielen Jahrzehnten im Sektorenvertrag festgeschrieben und bis jetzt hatte keiner versucht, irgendetwas daran zu verändern.

You've reached the end of published parts.

⏰ Last updated: Sep 06, 2015 ⏰

Add this story to your Library to get notified about new parts!

RiverWhere stories live. Discover now