Kapitel Eins

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KAPITEL EINS

Marlene hatte Kat am ersten Tag ihres Studiums getroffen, damals, als sie noch vollkommen verloren und ohne Freunde gerade einmal drei Tage allein in England verbracht hatte. Marlene war eine der wenigen internationalen Studenten ihres Kunst-Studienganges an der University of London und Kat hatte freiwillig die Aufgabe übernommen, sich um die orientierungslosen Gaststudenten zu kümmern.

Die beiden Mädchen hatten sich sofort gut verstanden und waren nach dem organisatorischen Teil zusammen Kaffee trinken gegangen. Kat erzählte ihr viel über London und über die Universität und auch über sich selbst. Damals war sie in ihrem vorletzten Studienjahr gewesen und hatte Marlene viele nützliche Tipps gegeben. Von da an hatte sich eine starke Freundschaft zwischen den beiden entwickelt, was nicht zuletzt daran lag, dass sie so gegensätzlich waren. Im nächsten Jahr hatten sich die beiden eine günstige Wohnung in der Nähe des Campus gesucht, in der sie auch heute noch leben.

Dann wurde Marlene schwanger und Kat stand ihr zur Seite, wofür sie ihr auf ewig dankbar sein würde. Kat hatte sie getröstet, als Marlene ihr geliebtes Studium aufgeben und sich einen Job suchen musste, um genug Geld für die Miete zu verdienen, da ihre Eltern ihr jegliche Unterstützung gestrichen hatten. Die Studiengebühren hätte sie sich auch nicht mehr leisten können. Kat hatte sich um sie gekümmert, als es ihr schlecht ging und sie den ganzen Tag vor der Toilette saß und keinen Bisschen essen konnte. Und zu Weihnachten hatte sie Marlene zu ihrer Familie nach Schottland eingeladen, damit sie nicht alleine in London bleiben musste. Kat hatte ihre Hand gehalten, als Mia zwei Wochen zu früh geboren wurde und Marlene fast verrückt wurde vor Angst und Sorge. Kat hatte ihr geholfen, sich tagtäglich um Mia zu kümmern und war in der Nacht aufgestanden, wenn Marlene es einfach nicht mehr schaffte, weil ihre Müdigkeit sie überrollte. Und Kat war es auch, die Mia jeden Morgen in den Kindergarten brachte, weil dieser auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle lag.

Marlene wusste nicht, womit sie eine solche Freundin wie Kat verdient hatte, aber sie dankte ihrem Schutzengel jeden Tag dafür und hoffte bloß, dass sie eines Tages für Kat genauso da sein konnte.

Mit ihren Eltern hatte Marlene seit zwei Jahren nicht mehr gesprochen und auch wenn es ihr damals das Herz gebrochen hatte, mittlerweile vermisste sie sie nicht mehr. Seit ihre Mutter ihr mit kalter Stimme mitgeteilt hatte, dass sie mit ihrem „Bastard“ bleiben konnte, wo der Pfeffer wächst, war sie für sie gestorben. Sie hatte ihre Telefonnummer geändert, alle Kontakte zu Deutschland gelöscht, die englische Staatsbürgerschaft beantragt und damit alle Verbindungen zu ihrem alten Leben abgebrochen. Sie bereute es nicht.

Wenn sie darüber nachdachte, hatte sie kein schlechtes Leben. Ihr Job war zwar nicht der, wovon sie geträumt hatte, aber vielleicht war er sogar noch ein bisschen besser. Schon seit über zwei Jahren arbeitete sie für das „New Age London“-Magazin. Sie schrieb keine frechen Artikel und schoss keine modischen Fotos - viel eher war sie die persönliche Assistentin der Chef-Editorin, Linda Vincent, und für viele mag es sich anhören, wie ein langweiliger und unterbezahlter Job, doch das war es ganz und gar nicht. Linda war erfrischend jung, gerade Anfang 30, kam mit immer neuen Ideen und Vorschlägen und bezog Marlene in viele ihrer Entscheidungen und Aufgaben mit ein. Von Langeweile konnte mit Linda nie die Rede sein. Und die Bezahlung war mehr als sie sich erhofft hatte und genug, um ihre Miete und Lebensunterhaltskosten abzudecken.

Dann war da natürlich Mia. Sie war vor wenigen Monaten ein Jahr geworden und das süßeste kleine Mädchen auf der ganzen Welt, auch wenn Marlene da parteiisch war. Mia hatte lockige, braune Haare und überraschend grüne Augen. Niemand konnte leugnen, dass sie das Aussehen ihres Vaters bis zur Nasenspitze geerbt hatte, so sehr es Marlene auch widerstrebte das zuzugeben. Sogar seine Grübchen hatte sie geerbt. Gut nur, dass niemand wusste, wer Mias Vater war - abgesehen von Kat, natürlich.

Marlene wusste nicht, wie die Welt darauf reagieren würde, dass der Frauenheld der heißesten Boy-Band der letzten Jahre ein Kind hatte. Andererseits, wenn an den Gerüchten um seinen Frauenverschleiß etwas dran war, dann dürfte ein Kind keine große Überraschung sein.

Nicht, dass Marlene jemals vorgehabt hatte, Harry Styles von seiner Tochter zu erzählen. Mal davon abgesehen, dass es nicht geplant war, das sie ihn jemals wiedertraf und sie auch nie eine Chance hätte, ihn irgendwie zu erreichen, wollte sie Mia nicht mit einem wildfremden Popstar teilen. Harry Styles war vielleicht ihr biologischer Vater, aber da endete auch schon jegliche Verbindung zu Mia. Er hatte rein gar nichts mit ihr zu tun. Wenn Mia irgendwann einmal nach ihm fragen würde, dann würde Marlene nicht lügen - niemals. Doch ansonsten hatte der Name Harry Styles in ihrem Haushalt nichts verloren.

Doch jetzt saß Marlene hier - nur wenige Meter von dem Vater ihrer Tochter entfernt, von dem Jungen, der mit ihr geschlafen und sie zurückgelassen hatte wie ein billiges Flittchen - und alles hatte sich in den letzten Minuten geändert.

Sollte Mia irgendwann nach ihrem Vater fragen, dann würde Marlene erzählen müssen, dass sie die Chance hatte, ihm von seiner Tochter zu erzählen. Sie konnte sich nicht rausreden und sagen, dass sie nie eine Möglichkeit hatte ihn zu erreichen. Aber unter diesen Umständen war alles möglich …

Marlene war ratlos. Sie wollte Harry Styles nichts von Mia erzählen - sowieso, sie wollte nicht mit ihm reden, ihn nicht einmal ansehen. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sofort wertlos und leichtsinnig und dumm. Er hatte ihr dieses Gefühl gegeben, als er sie an diesem Morgen einfach ohne ein Wort verlassen hatte. Noch dazu würde er sich nicht an sie erinnern und sie als Lügnerin beschimpfen und auch wenn sie beweisen konnte, dass Mia seine Tochter war - war es das wirklich wert? Alles in Marlene sträubte sich dagegen.

Gleichzeitig wusste sie, dass ihre Tochter es ihr niemals verzeihen würde, sollte sie jetzt nicht die Initiative ergreifen. Sollte es in zehn oder zwanzig oder fünfzig Jahren sein, irgendwann würde ihr Mia vorhalten schuld daran zu sein, dass sie ihren Vater nicht kannte, das er niemals die Chance hatte sie kennenzulernen, weil Marlene zu verängstigt und selbstsüchtig gewesen war, was der Wahrheit entsprach. Marlene wusste, dass sie an ihrer Stelle unendlich wütend und enttäuscht sein würde und sie wollte nicht, dass ihre Tochter ihr gegenüber so empfand.

Marlene biss sich nervös auf der Unterlippe herum, das IPad, auf welchem sie die Termine planen sollte, lag längst vergessen auf dem Tisch neben ihr und ihr Blick war stur auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, auch wenn sie diese nicht wirklich sah. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie verschwendet hatte, abzuwägen, ob sie mit Harry Styles reden sollte oder nicht, aber sie schien nicht viel verpasst zu haben.

Als sie aufsah und zum ersten Mal zum Set schaute, erkannte sie drei der Jungs vor der Kamera, rumzappeln und Grimassen schneiden. Marlene konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Sie konnte verstehen, warum so viele Mädchen auf der Welt diesen Idioten zu Füßen lagen.

Ein leises Räuspern ließ sie erschrocken zusammenzucken und sie drehte den Kopf. Sie nahm warme, braune Augen und kurze Haare wahr und realisierte Sekunden später, dass einer der Jungs neben ihr stand und sie ansah. Liam, um genau zu sein.

„Oh, hi“, stieß sie überrascht hervor und versuchte es erneut mit einem Lächeln, was ihr nicht mehr so schwer fiel, wie zuvor.

„Hey“, grüßte der Sänger mit weicher Stimme und kratzte sich im Nacken, was fast ein wenig verlegen wirkte. „Tut mir leid, wenn ich dich verwechsele, aber kenne ich dich irgendwo her? Ich könnte schwören, dass wir uns schon einmal getroffen haben … “ Er vollendete den Satz nicht und sah sie fast schon erwartungsvoll an.

Marlene schluckte schwer. Das war die perfekte Chance, der erste Schritt zur Aufklärung der Wahrheit … oder der letzte Schritt zur Vertuschung.

here is the deepest secret nobody knows [One Direction / Harry Styles]Where stories live. Discover now