Seraphina
„Sie lügen."
„Nein."
„Ich frage Sie noch einmal, haben Sie zum Zeitpunkt von Nicholas Everetts Verschwinden geschlafen?"
Nervtötende Stille. Ich könnte schreien.
„Ms Everett?"
„Ich erinnere mich nicht", hörte ich meine hohle Stimme sagen. Ich will mich nicht erinnern.
„Sie wissen, dass wir das prüfen können."
„Dann tun Sie das", fauchte ich und stand auf. Ich rannte hinaus, weg von Officer Walker, weg vom Polizeirevier und dem Verhör. Vermutlich würde es dafür ziemliche Konsequenzen geben, doch wen interessiert's. Officer Walkers Meinung über mich war sowieso schon in Grund und Boden gestampft.
Die Türen schlugen hinter mir ins Schloss und erst, als meine knallroten Vans festen Boden berührten, konnte ich wieder atmen. Ich keuchte. Kleine Atemwölkchen setzten sich hoch in die Dunkelheit. Ich bin wirklich wieder hier. In Crimson Tides.
Ich hatte zuvor schon gemerkt, dass etwas anders war, als ich wieder in den spärlich beleuchteten Gassen von Crimson Tides stand. Ein prickelndes Gefühl, das der Boden in meine Fußspitzen leitete. Als würden sich selbst die Häuser noch an die Nacht erinnern, als er verschwand. Als alles begann.
Schrie ich gerade wirklich? Ich konnte nicht wirklich sagen, ob ein Ton aus meinen geöffneten, geschminkten Lippen kam. Ich würde so gerne in den Nachthimmel kreischen, um meiner Wut ein Ventil zu schaffen.
Meine Tasche zerrte an meiner Schulter, als wollte sie mich zurück nach Arizona City reißen. I love Arizona war in prunkvollen, onyxfarbenen Lettern aufgedruckt. Nach dem Verschwinden meines Bruders nahm mich die fremde Stadt in ihre offenen Arme. Menschen interessierten sich dort nicht für meine Vergangenheit. Dort konnten sie mich kennenlernen, Seraphina Everett. Denn, glaubt mir, als Schwester des scheinbar toten Bruders abgestempelt zu werden, war nicht schön.
Die erzwungene Rückkehr nach Crimson Tides schleppte auch die Tatsache mit sich, dass alles wieder hochkommen könnte. Dass meine Geheimnisse gelüftet werden könnten. Dass Menschen die düstere Seite von mir, Seraphina Everett, und meinen drei Freunden kennenlernen könnten.
Ich stützte mich auf den Knien ab. Keine Ahnung, ob meine Tasche auf die gepflasterte Straße plumpste und vom amerikanischen, warmen Regen durchtränkt wurde.
Ein Schraubstock in meiner Brust ließ mich nach Luft ringen, und meine Hand wanderte unbewusst dorthin, um zu prüfen, ob mein Herz überhaupt noch schlug.
Ich hatte meine Freunde seit dem Verschwinden meines Bruders nicht zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich hatte ich schon längst den Klang ihrer Stimmen oder gar ihr Aussehen vergessen. Wir waren alle einen anderen Weg gegangen, doch eigentlich hatten wir das gleiche Ziel gehabt: Raus aus dem verfluchten Crimson Tides.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich mich auf die Bordsteinkante gleiten ließ. Der Regen prasselte unermüdlich auf mich herab, wie damals. Seit Nicholas' Verschwinden konnte die Sonne die dunklen Wolken, die aufgezogen waren, einfach nicht verdrängen.
Mit einem leisen Knistern entflammte ein winziges Feuer der Zuneigung in mir. Die kleinen, charmanten Häuser aus verwittertem Holz, der Duft nach Salz und Meer und die tosenden Wellen, die gegen die Klippen schlugen. Damals hatte ich es magisch genannt. Aber ich war mir nicht ganz sicher, ob es immer noch dieselbe Magie war oder die dunklen Schatten der Vergangenheit, die dieses Dorf umgaben. Meine Rückkehr in das Dorf war mehr als nur eine Heimkehr. Es war ein Schritt zurück in die Vergangenheit, die ich so krampfhaft zu vergessen versuchte.
Der kalte Wind zwängte sich in meine Augen, bis sie tränten und ich sie schließen musste.
Meine alten Freunde. Bekannte Seelen, die ich in der Hölle kennengelernt hatte, die mich aus dem Feuer gezerrt hatten, als ich beinahe mit Fleisch und Blut verbrannt wäre.
Ich hatte das Gefühl, dass ich sie gar nicht mehr kennen würde. Nur ihre Namen. Hunter, Ben und Summer.
Der eine Tag, den wir den ganzen Tag lachend verbracht hatten, hatte sich klar und scharf wie Bens Tequila in meine Erinnerungen eingebrannt. Ich wusste noch genau, wie Hunters breites Grinsen ausgesehen hatte, als er mich ins Meer schubste. Summer hatte durch ihr Objektiv gesehen und gerade in dem Moment ein Foto geknipst, als Hunter meinen Kopf unter Wasser gedrückt hatte. Ben hatte den ganzen Nachmittag im Sand gelegen und uns beobachtet, während er immer wieder für Getränke gesorgt hatte.
Gerade erst waren wir von den Klippen gesprungen und hatten uns geschworen, dass nichts und niemand je einen Keil zwischen uns treiben konnte. Heute fühlte es sich an, als läge eine Ewigkeit und drei Menschenleben dazwischen. Nun waren wir vielleicht zu Fremden geworden. Wer wusste das schon. Es war schwierig, jahrelang ohne Kontakt leben zu müssen, besonders für einst unzertrennliche Freunde, wie wir es damals waren.
Und ich musste klarkommen.
YOU ARE READING
Hide and Seek
Mystery / ThrillerAls Seraphina nach fünf Jahren nach Crimson Tides zurückkehrt, erwartet sie nur eines: Misstrauen. Und vor allem die Wahrheit über die Nacht, die ihr Leben zerstört hat. Ihr Bruder Nicholas verschwand damals spurlos. Und hinter sich ließ er seine We...
