Tag 2/ 2 Eintrag

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JISUNGS TAGEBUCH. EINTRAG AN TAG 2:

Der zweite Tag fühlte sich noch schwerer an als der erste.
Vielleicht, weil ich wusste, dass das hier nicht so schnell enden würde. Vielleicht, weil wir kaum etwas zu tun hatten außer Warten. Oder vielleicht einfach, weil Minho da war.

Wir frühstückten schweigend. Brot, das schon trocken war, und Wasser aus Plastikflaschen. Niemand sagte es laut, aber ich sah die Sorge in den Gesichtern der Erwachsenen – wie lange das wohl reichen würde? Ich kaute mechanisch, versuchte nicht hinzuschauen, wie Minho neben mir sein Stück Brot in winzige Stücke riss und sie gelangweilt aß. Und trotzdem wanderte mein Blick immer wieder zu ihm.

Er bemerkte es, natürlich.
„Was guckst du so?“, fragte er grinsend, mit vollem Mund.
„Gar nichts“, murmelte ich und starrte sofort auf den Tisch. Mein Gesicht brannte.

Später, als meine Mutter und sein Mom in der Küche diskutierten, schalteten wir im Wohnzimmer den Fernseher ein. Nur Rauschen. Keine Nachrichten mehr, kein Nichts. Ich spürte, wie sich ein Knoten in meinem Bauch bildete. Und Minho? Er lachte. „Ey, Jisung, stell dir vor, wir sind die letzten Überlebenden. Wäre doch cool, oder?“
Cool. Dieses Wort passte überhaupt nicht zu der Panik, die draußen herrschte. Aber irgendwie wirkte es, als würde er das alles nicht ernst nehmen – oder er war einfach besser darin, es zu verstecken.

Dann kam dieser Moment, der mich fertig machte:
Er warf sich aufs Sofa, packte sich das Kissen neben mir und legte es unter seinen Kopf, so dicht, dass unsere Arme sich streiften. Mein Herz raste, meine Hände zitterten, und ich tat alles, um nicht einfach wegzurennen. Für ihn war es nur bequem. Für mich war es die Hölle.

Ich hörte draußen in der Ferne Schreie. Meine Mutter zog die Vorhänge zu.
Und doch war alles, woran ich denken konnte: Minho.
Wie nah er war. Wie sehr er mich zerstörte, ohne es zu ahnen.

Irgendwann am Nachmittag konnte ich es nicht mehr aushalten. Die Wände fühlten sich an, als würden sie uns zerdrücken, und die Geräusche draußen ließen mich nicht los.
„Wir… könnten vielleicht mal kurz rausgucken“, sagte ich leise, fast so, als würde ich ein verbotenes Wort aussprechen.

Meine Mutter drehte sich sofort zu mir um, die Augen weit. „Nein, Jisung! Auf keinen Fall! Du hast gehört, was draußen passiert!“
Mein Vater nickte streng, die Stirn in Falten. „Rausgehen ist tödlich. Wir bleiben hier, Punkt.“

Ich nickte, wollte schon den Mund halten, da hörte ich Minho neben mir.
„Warum eigentlich nicht?“ fragte er und grinste. „Ich meine, nur gucken. Wir müssen ja nicht rauslaufen oder so.“

Ich starrte ihn an. Minho. Er stimmte mir zu.
Die Worte meiner Mutter hingen noch in der Luft, aber für einen Moment schien alles andere vergessen. Nur er und ich und der Gedanke daran, die Stadt da draußen wenigstens mit den Augen zu sehen.

„Es ist zu gefährlich!“ Meine Mutter sprang auf, ihre Stimme laut und verzweifelt.
„Nein, wirklich, wir bleiben drin. Punkt.“ Mein Vater stand auf, ging bedrohlich einen Schritt auf uns zu.

Aber Minho zuckte nur mit den Schultern, grinste frech, als wollte er sagen: „Komm schon, Jisung. Wir schaffen das.“
Und ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, halb vor Angst, halb vor diesem Wahnsinnsgefühl, dass ich plötzlich nicht mehr allein war mit meinem Gedanken.

Ich wusste, dass es verrückt war. Dumm. Gefährlich. Und trotzdem…
Ich wollte es. Ich wollte es jetzt.

Wir schlichen also zusammen zum Fenster.
Meine Eltern hatten sich in der Küche vergraben, in ein hitziges Flüstern über Vorräte und Sicherheitsmaßnahmen vertieft. Perfekt.

Minho schob die Vorhänge nur ein Stück auf, gerade so viel, dass wir hinausschauen konnten. Die Stadt sah aus wie eine Geisterwelt. Verlassene Straßen, umgekippte Autos, Rauchschwaden, die sich in der Ferne erhoben. Und überall diese… Bewegungen. Menschen, die sich seltsam ruckartig bewegten, langsam, dann plötzlich hektisch, als hätten sie keinen Plan, wohin sie wollten.

„Oh…“, hauchte Minho. Sein Gesicht leuchtete im schwachen Licht. Ich konnte nicht genau sagen, ob es Staunen war oder Faszination. Aber für mich fühlte es sich an wie Verrat. Warum konnte er so ruhig bleiben, während ich jeden Atemzug fürchtete, als würde er mein letzter sein?

Wir standen dicht nebeneinander. Zu dicht. Seine Schulter berührte meine, nur leicht, aber ich spürte es wie Strom durch meinen ganzen Körper jagen. Ich wollte wegsehen, mich abwenden, aber konnte es nicht.

„Siehst du das?“ flüsterte er, die Augen auf die Straße gerichtet. „Sie bewegen sich so… anders.“
„Ja…“, stammelte ich. „Sehr anders.“ Mein Herz hämmerte in meiner Brust, und ich hatte das Gefühl, es würde gleich explodieren. Vor Angst? Vor Verliebtheit? Vor beidem zusammen?

Wir standen da, und obwohl es draußen gefährlich war, war es dieser Moment, der mich gleichzeitig verrückt machte. Minho neben mir, so nah, und ich durfte es niemandem sagen, nicht einmal mir selbst.

Dann hörte ich draußen ein Geräusch, das mich erschaudern ließ – ein Knirschen von Glas, ein schweres Stöhnen. Ich wollte gerade zurückweichen, doch Minho legte eine Hand auf meinen Arm. Nur kurz. Nur unbewusst.
Aber für mich war es wie ein Funke, der alles anbrannte, was ich versuchte zu verstecken.

Der zweite Tag endete damit, dass wir beide schweigend am Fenster standen, die Augen auf die zerstörte Stadt gerichtet. Und ich wusste, dass nichts mehr so sein würde wie vorher – weder draußen, noch in mir drin.

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⏰ Last updated: Nov 21 ⏰

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