Der Start/Eintrag nummer 1

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EINTRAG NUMMER 1 IN JISUNGS TAGEBUCH:

Ich hätte nie gedacht, dass die Welt so schnell auseinanderfallen könnte.
Gestern noch Schule, Hausaufgaben, Musik hören. Heute: Schreie in den Straßen, Sirenen, Schüsse. Alles riecht nach Rauch und Angst.

Wir sollten froh sein, dass wir überhaupt zusammen in der Wohnung eingeschlossen sind – meine Eltern, die beste Freundin meiner Mutter und ihr Sohn Minho. Doch für mich ist das alles noch komplizierter. Denn Minho ist nicht einfach nur „der Sohn von Mamas Freundin“.
Er ist der Junge, den ich seit Jahren heimlich anschaue, wenn niemand es bemerkt. Der einzige Grund, warum mein Herz schneller schlägt, obwohl draußen alles den Bach runtergeht.

Jetzt leben wir in einer Sechs-Zimmer-Wohnung, Tag und Nacht zusammen. Keine Privatsphäre, keine Flucht. Meine Eltern haben zu viel Angst, um darüber nachzudenken, wie wir klarkommen. Doch ich spüre jedes Mal, wenn Minho in meiner Nähe ist, wie sehr ich ihn will – und wie falsch es sich gleichzeitig anfühlt, in so einer Welt überhaupt noch zu hoffen.

Manchmal erwische ich ihn, wie er mich auch ansieht. Nicht lange, nur einen Augenblick. Und ich frage mich: Bilde ich mir das ein, oder…?

Aber die Seuche da draußen wartet nicht, bis ich meine Gefühle sortiert habe. Jeder Tag bringt neue Nachrichten von Nachbarn, die „abgeholt“ wurden. Der Staat tötet jeden infizierten..
Jeder Schrei auf der Straße fährt mir durch Mark und Bein. Und obwohl wir hier drinnen sicher sein sollten, weiß ich tief in mir, dass es nicht so bleiben wird.
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Der erste Morgen nach dem Ausbruch fühlte sich seltsam an.
Draußen war es noch dunkel, doch die Stadt klang anders – keine hupenden Autos, keine Stimmen, kein Leben. Nur das entfernte Heulen von Sirenen und ab und zu ein Schuss, der wie ein Echo zwischen den Hochhäusern hängen blieb.

In der Küche roch es nach Instantkaffee. Meine Mutter und ihre Freundin flüsterten miteinander, so leise, dass ich kaum etwas verstand. Vorräte, Wasser, ob wir die Fenster abdichten sollten. Alles Worte, die mir fremd vorkamen, als hätte jemand unsere Wohnung in ein Kriegsgebiet verwandelt.

Mein Vater saß schweigend am Küchentisch, den Blick starr auf sein Handy gerichtet, obwohl schon längst kein Netz mehr da war. Er scrollte ins Leere.
Und Minho? Er lehnte im Türrahmen, verschlafen, mit zerzausten Haaren, und trotzdem zog er meinen Blick sofort an. Ich versuchte, nicht zu starren, aber es gelang mir nie lange.

Wir frühstückten schweigend, jeder in seinen Gedanken. Nur das Kratzen der Löffel im Geschirr war zu hören. Ich spürte, wie die Luft immer dicker wurde – nicht nur von der Angst, sondern auch, weil wir zu viele Menschen in zu wenig Räumen waren.

Nach dem Essen lief ich ins Wohnzimmerfenster und zog den Vorhang nur ein Stück zur Seite.
Die Straße war wie ausgestorben. Ein umgekippter Bus, ein paar Taschen, die jemand fallen gelassen hatte, Blutspuren, die mitten auf dem Asphalt endeten. Keine Menschen. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden.

„Du sollst nicht rausschauen“, sagte Minho plötzlich hinter mir.
Ich fuhr zusammen. Er stand so nah, dass ich seinen Atem im Nacken spürte. „Wenn dich jemand sieht, holen sie uns alle“, flüsterte er.

Ich nickte, zog den Vorhang zu und versuchte, cool zu wirken. Aber mein Herz raste. Nicht wegen der Gefahr draußen – sondern weil er da war. Neben mir. Näher, als er je zuvor gewesen war.

Er machte es mir unmöglich, ruhig zu bleiben – ohne es überhaupt zu merken.
Er schlenderte durch die Wohnung, als würde er sich hier schon immer auskennen. Er schnappte sich den letzten Apfel aus der Obstschale, biss hinein, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, und grinste dabei so, dass mir die Kehle trocken wurde. Ich starrte auf den Biss im Apfel, während mein Magen knurrte, und hasste mich dafür, dass ich nicht wütend war – sondern nur daran dachte, wie seine Lippen an der Stelle gewesen waren.

Beim Mittagessen setzte er sich neben mich, obwohl auf der anderen Seite noch Platz gewesen wäre. Sein Knie berührte meins, nur ganz leicht, wahrscheinlich ohne Absicht. Für ihn war es nichts. Für mich fühlte es sich an wie Feuer, das sich unter meiner Haut ausbreitete. Ich starrte so verbissen auf meinen Teller, dass meine Mutter mich fragte, ob mir schlecht sei.

Als wir später alle im Wohnzimmer saßen, war es kaum besser. Minho lag halb auf dem Sofa, Arme hinterm Kopf, als wäre er zu Hause. Seine Mutter redete ununterbrochen, meine Eltern flüsterten über Vorräte und Wasser, und ich? Ich starrte wie gebannt auf Minho und betete gleichzeitig, dass er es nicht bemerkte.
Natürlich bemerkte er es. Er sah mich direkt an, hob eine Augenbraue und grinste frech, als hätte er mich erwischt. Mir wurde so heiß, dass ich fast aufsprang und ins Schlafzimmer rannte.

Stattdessen blieb ich sitzen, gefangen zwischen Scham und diesem verrückten Gefühl, das noch viel stärker war als die Angst vor der Seuche draußen.

Vielleicht war das das Schlimmste am ersten Tag: Nicht, dass die Welt zusammenbrach.
Sondern, dass Minho in meiner Nähe war te.

U͟n͟d͟ ͟z͟w͟i͟s͟c͟h͟e͟n͟ ͟u͟n͟s͟ ͟d͟e͟r͟ ͟T͟o͟d͟ ͟Where stories live. Discover now