100 Momente

63: Summer

12. August 2019, Winkelgasse

Das Mädchen lief die Straße entlang. Sie war ihren Eltern gerade für ein paar Minuten entkommen, als diese sich in Flourish & Blotts neue Bücher über Drachengewächse ansahen. Ihre Eltern waren Gärtner mit einem Hang zum morbiden und gefährlichen. Nikki hatte das noch nie nachvollziehen können.

Gut - das mit der Gefahr schon. Sie liebte Quidditch und daher war sie gerade auf dem Weg, sich die neuesten Rennbesen anzuschauen. Die Sonne brannte heiß herunter und ließ ihr kurzes Haar silbrig glänzen. Vor dem Quidditch-Geschäft drängten sich jüngere Kinder und drückten sich die Nasen am Schaufenster platt.

Wie jung sie aussahen, dachte Nikki. Ob sie vor zwei Jahren, kurz vor ihrer Einschulung in Hogwarts, auch so ausgesehen hatte? Sie war groß für ihre dreizehn Jahre und konnte über die anderen hinwegsehen; auf das, was im Schaufenster prangte: Der Feuerblitz 700 - der neuste und beste Rennbesen, welchen man derzeit für Geld bekommen konnte! Sein Schweif glänzte, als wäre er mit einem Leuchtzauber überzogen.

Nikki machte sich nicht viel aus hübschen, glänzenden Dingen - und gerade bei einem Besen waren ihr die Flugeigenschaften viel wichtiger als irgendwelche Sonderausstattungen wie gepolsterte Sitzfläche und ähnlichem. Ihr eigener Besen bestand aus den Überresten des alten Silberpfeils ihrer Großmutter, welche immer wieder repariert und ausgebessert wurden. Die Weiden für den Schweif hatten ihre Eltern selbst herangezogen.

Nikki konnte diesen Besen im Schlaf fliegen und wollte ihn um nichts in der Welt eintauschen - auch wenn sie, wenn auch ungern, zugeben musste, dass er nicht an die Geschwindigkeiten der neuesten Feuerblitze heranreichte. Grübelnd blickte sie noch einmal durch das Schaufenster, um sich dann abrupt umzudrehen und davonzugehen.

Rums! Sie war geradewegs in einen kleinen Jungen mit goldblonden Haaren hineingelaufen, der aussichtslos versuchte, einen leeren Eulenkäfig festzuhalten. Er fiel scheppernd zu Boden und rollte zur Seite.

Nikki wurde rot. "Entschuldige, ich habe nicht aufgepasst."

Sie hob den Käfig auf und gab ihn dem Jungen. Er sah sie aus seinen kleinen grünen Augen an - er schien weder verärgert noch verängstigt, eher... Belustigt?

Er grinste. "Ach, kein Problem. Zum Glück saß Alma grad nicht drin, die hasst es, runter zu fallen."

Er stellte den Käfig neben sich ab und gab ihr die Hand. "Ich bin Charles Hilton und wie heißt du?"

Nikki war es nicht gewohnt, dass Fremde so entgegenkommend waren, aber sie gab ihm zögernd die Hand. "Ich bin Nikki. Nikki Turunen."

Sie schwiegen für einen kurzen Moment, dann fragte sie: "Alma ist deine Eule? Warum hast du nur ihren leeren Käfig dabei?"

Charles zeigte mit seiner Hand die Straße entlang. "Alma ist gerade bei Eeylops. Sie scheint verletzt zu sein und wir wollten sie nochmal durchchecken lassen, ehe ich sie mit nach Hogwarts nehme. Ich glaube ja, sie simuliert nur wieder - diese Eule ist eine schreckliche Dramaqueen."

Er grinste. "Meine Eltern wollten aber auf Nummer sicher gehen. Sie sagen, sie trauen den Wildhütern von Hogwarts nicht, was die" - er betonte die folgenden Wörter auffällig - "sachgemäße Pflege von wertvollen Eulen angeht." Charles lachte. "Meine Eltern sind komisch."

Nikki musste auch lachen. "Da kennst du meine nicht! Die gärtnern am liebsten alles, was gefährlich ist. Gerade suchen sie neue Bücher über irgendwelche Kreuzungen aus Fangschlingen mit Drachenblut. Da wären mir manchmal pingelige Eltern wirklich lieber."

Sie grinste. "Naja, aber nur manchmal!"

Beide lachten.

"Aber Hagrid und Roger, die Wildhüter von Hogwarts, sind voll in Ordnung." sagte Nikki. "Als letztes Jahr die Katze meiner Mitbewohnerin verletzt war, haben sie ihr super helfen können!"

Die Augen des Jungen leuchteten. "Du gehst auch nach Hogwarts? Ich werd' demnächst eingeschult - ich freu' mich schon darauf, endlich von meinen Eltern wegzukommen. In welchem Schuljahr bist du, in welchem Haus?"

"Ich komme in die dritte Klasse - und ich bin in Gryffindor!"

Charles' Augen zuckten ein wenig, als sie das sagte, aber Nikki fiel es nicht auf.

"Was denkst du in welches Haus du kommst?" fragte sie.

"Oh, ach, naja... Ich lass' mich da überraschen. Was trägst du da eigentlich für einen schönen Anhänger?", fragte er schnell.

Nikki sah an sich herab und nahm das Kristallamulett in die Hand, welches an einer dünnen Kette um ihren Hals hing. Es war eine kleine Pyramide, in ihr schimmerte etwas bläulich.

"Das ist ein Andenken an meine Großmutter. Sie hat es mir geschenkt, als ich nach Hogwarts gegangen bin. Innen drin wächst ein Vergissmeinnicht. Sie hat es irgendwie magisch verändert. Sie sagt, solange ich an sie denke und..." Sie zögerte kurz. "Und an meine Träume glaube, wird die Blume nie verblühen."

Nikki sah Charles an. "Meine Großmutter war Quidditchspielerin und eigentlich ein sehr rationaler Mensch. Das war das einzigste Mal, dass ich sie so etwas... Verträumtes sagen hörte."

Charles lächelte sie an, da erblickte sie hinter ihm, in einiger Entfernung, ihre Eltern, die ihr zuwinkten.

"Ich muss jetzt gehen", sagte sie zu ihm. "War nett, dich getroffen zu haben. Und tut mir leid wegen dem Käfig - ich hoffe deiner Eule geht's bald wieder besser."

"Wir sehen uns dann in Hogwarts - vielleicht kommst du ja nach Gryffindor, dann kann ich dir alles zeigen! Bis dann!" rief Nikki und lief davon.

Charles blickte ihr hinterher. Sein Lächeln wurde traurig - er ahnte bereits, dass sein Weg in Hogwarts nicht in ihr Haus führen würde.