2. August

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Muuhh.

Die Diskussionen der Kühe mischen sich in das Rauschen des kleinen Baches, der hinter dem Haus durchfließt. Der Sommer im Schweizer Mittelland kann nicht als Sommer bezeichnet werden. Wenn es zufälligerweise nicht regnet, türmen sich Cumulus-Wolken auf, die sich nachmittags mit heftigen Gewittern entleeren. Salvatore Picci vermisst den Sommer Italiens. Als der Wecker rappelt, tappt er mit der flachen Hand auf das Gerät und dreht sich verschlafen zu seiner Frau hin, die ihn bereits anlächelt. Das ist Sommer, denkt er sich und küsst sie sanft.

"Guten Morgen, Principessa. Du bist schon wach?"

"Ja, du kennst mich doch. Ich mag den Morgen. Frühstück?"

"Du hast schon Frühstück gemacht?"

Sie lächelt, wuschelt durch sein Haar und krümelt sich aus dem Bett. "Aber ja - ich erwarte dich in der Küche." Neckisch schickt sie ihm eine Kusshand zurück.

Salvatore stellt sich unter die Dusche, was seine Geister weckt. Für das Frühstück zieht er bloß eine kurze Hose und ein T-Shirt über, der Anzug muss noch warten. Er setzt sich zu Morena, die ihm bereits eine Tasse Kaffee hinhält.

"Dein erster Tag. Wie fühlst du dich?"

"Nervös. Es ist eine große Firma, die ich hier übernehme. Einer der wichtigsten Arbeitgeber des Dorfes. Viele meiner Angestellten werden Eltern deiner Schülerinnen und Schüler sein. Bist du nicht nervös?"

"Doch, schon, aber nicht wegen dir. Du wirst das großartig hinkriegen. Du bist ein empathischer Chef, der sich um das Wohl seiner Angestellten sorgt. Die Glasfabrik ist groß, das stimmt, aber mit dir haben sie den besten CEO geholt, den sie finden konnten. Und falls du bei den Zahlen nicht mehr weiterkommst, kannst du mich fragen." Bei diesen Worten setzt die studierte Mathematikerin ein breites Grinsen auf.

"Ja, das Zahlengenie bist eindeutig du. Aber keine Angst, in der Firma habe ich Angestellte, die genau kontrollieren, dass meine Berechnungen korrekt sind. Es stehen große Investitionen an; Fernheizung, neue Zufahrt, Verträge mit den Elektrizitätswerken für eine Photovoltaik."

"Noch mehr Umbauten." Morena schaut sich in der Wohnung um. Noch stehen viele Umzugskartons in hohen Stapeln herum. Einzelteile von Möbeln liegen bereit. "Hach, haben wir richtig entschieden? Haben wir uns nicht übernommen damit?"

Salvatore streichelt ihr über den Arm. "Nein, das packen wir schon. Die Kinder sind noch eine Woche bei meinen Eltern. Die Kartons werden wir noch alle auspacken, bis sie wieder hier sind. Ich habe schon Pläne für die Kinderzimmer; ihre Farben haben sie ja schon ausgewählt."

"Okay. Ich klebe dann heute alles ab, damit du morgen streichen kannst. Ich habe nur noch eine Woche, dann geht es auch bei mir wieder los."

"Wie ist das für dich; wieder Unterricht, nach so vielen Jahren?"

"Ungewohnt. Die Schule ist als Kreisschule organisiert, das kenne ich nicht. Wir haben einen Schulleiter vor Ort, sein Name ist Frank Besenberger", sie lachen beide, "doch er alleine kann wenig entscheiden. Die Regionalleitung sitzt in Reinhof. Dann gehören noch Niederwil und Unterberg dazu. Mein Schulzimmer und Arbeitsplatz wird hier in Oberwil sein; in einem schmucken, alten Schulhaus. Ich bin nervös, aber das ist gut so. Dann bereite ich mich auch seriös vor."

"Da habe ich nicht die geringsten Zweifel, meine kleine Streberin. Ich freue mich, dass du wieder unterrichten willst. Mit meiner neuen Stelle kann ich nun endlich auch meinen Beitrag zur Hausarbeit leisten. Ich weiß nur noch nicht, wie ich dir jemals für die Jahre danken kann, die du für unsere Kinder zuhause geblieben bist."

Morena neigt sich zu ihrem Mann, küsst ihn und stupst seine Nase mit dem Finger an. "Hast du doch schon, mein Liebster. Du bist dir treu geblieben, bist dich selbst und liebst mich. Mehr braucht es nicht. Wir haben drei wundervolle Kinder, in die wir beide vernarrt sind. Ich hätte es nie anders gewollt."

Als Salvatore aus dem Haus ist, setzt sich Morena zuerst eine Stunde an den Computer. Sie studiert die Unterlagen, die sie von der Schule erhalten hat. Stundenplan, Klassenlisten mit den Adressen, Fotolisten der Klassen. Sie betrachtet die Fotos ihrer eigenen Klasse etwas genauer als die anderen. Ein Mädchen fällt ihr dabei speziell auf, Tanya Huber. Sie wirkt auf dem Foto wütend, abweisend; doch Morena sieht Traurigkeit in den schwarz geschminkten Augen. Sie beschließt, sich über die Geschichte dieses Mädchens genauer zu informieren.

Einmal mehr fragt sie sich, wie die Schule es schafft, das Interesse der neugierigen Kinder zu verspielen. Kinder wollen lernen, sie wollen erfahren und sie wollen Grenzen ausloten. Schule und Eltern sollten sie dabei unterstützen, sie nicht in Bahnen zwingen, die sie nicht begehen wollen. Schließlich lernt und arbeitet man, um sein Leben organisieren zu können und nicht umgekehrt.

Morena hat Mühe mit dem Leistungsdruck der Gesellschaft. Für sie ist lernen Freude; selbst mit ihren zweiundvierzig Jahren hat sie die Neugier nicht verloren. Alles, was sie nicht kennt, findet sie spannend und will mehr darüber wissen. Deshalb hat sie Mathe studiert, weil die Mathematik nie aufhört, spannend zu sein. Immer ist da etwas Neues; ein neues Teil, das sich logisch ins Gesamtbild fügt, als ob man ein unendliches Puzzle zusammenbaute.

Genau deshalb findet sie Jugendliche wie diese Tanya spannend. Welche Geschichte steckt dahinter? Wo ist der Weg, den dieses Mädchen beschreiten will und warum darf sie das nicht? Wie kann man das Umfeld mit den Neigungen und Leistungen des Mädchens in Einklang bringen, damit dieser offensichtliche Misfit ein Ende findet und das Mädchen sein Talent entfalten kann? Schwierige oder resignierte Schülerinnen und Schüler sind für Morena kein Problem, sie sind eine Challenge. Eine positive Herausforderung, die es anzugehen und zu lösen gilt - wie eine Matheaufgabe. Sie muss nur den richtigen Lösungsweg finden.

Mit einem Lächeln im Gesicht legt Morena ihre Unterlagen weg. Sie freut sich auf die neue Stelle an der kleinen Dorfschule. Sie freut sich auf die Jugendlichen.

Dann stellt sie die Musikanlage an, laute Rockmusik ist genau das Richtige, um drei Zimmer mit Klebeband vollzukleben, damit der Maler Salvatore danach die Wände beklecksen kann. Sie freut sich jetzt schon auf die strahlenden Augen ihrer Kinder, wenn sie hier einziehen. In einer Woche, wenn ihr neues Leben beginnt.

Sweet Little SixteenTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon