Diese Gildenseite ersparte uns Jägern die mühsamste Aufgabe des ganzen Unterfangens – das ewig lange Recherchieren. Natürlich gab es genauso Aufträge, die nicht klar deklariert waren, da noch nicht feststand, mit welchem Monster man es zu tun hatte. Hier waren die Punkte um ein Vielfaches höher, weil man für alles gewappnet sein musste und es kein „Rein-Töten-Raus-Job" war, sondern eben die Recherche an einem selbst hängen blieb.

Sobald ein Jäger sich für einen Auftrag meldete, konnte man das auf der Jägerdatenbank sehen und somit einen anderen wählen. Klar hätte man sich für den gleichen Auftrag melden können, doch dann konnte es gut sein, dass der andere Jäger schneller war und man die Punkte verlor oder, wenn man den Monstern gemeinsam den Garaus machte, die Punkte geteilt wurden. Genau das waren auch die Gründe, warum ich ganz nach unten scrollte, wo die punktreichsten Aufträge aufgelistet waren und jene, die nur wenige Jäger annehmen wollten.

Und ja, vielleicht war Jayden ebenso ein Grund, warum ich mich ausgerechnet für einen Auftrag in Jeseník entschied. Einer kleinen Stadt, die abgelegen im östlichsten Zipfel Tschechiens lag. Im Pin – der Auftragsbeschreibung - stand lediglich, dass seit einigen Wochen Kinder aus dieser Gegend verschwanden. Dieser Punkt mit den Kindern war der ausschlaggebende Faktor, weshalb ich bei diesem Auftrag auf Annehmen klickte. Ich war keine Heilige, ich tat den Job nicht aus Nächstenliebe, sondern weil ich gut darin war und dadurch viel Kohle machen konnte. Aber wenn Kindern etwas zustieß, brannten bei mir die Sicherungen durch. Dieses Biest würde ich finden und mit Genuss von oben bis unten aufschlitzen.

Außerdem stand zusätzlich im Pin, man konnte nicht feststellen, welches Wesen dort sein Unheil trieb. Es gab mehrere Möglichkeiten: Werwölfe, Vampire, Wiedergänger – also Zombies oder Geister -, aber auch Faes. Meist nicht diese kleinen, süßen, glitzernden Feen aus Büchern oder Filmen, die einem um die Ohren schwirrten und sich mit Honig besoffen, sondern die ekligen, oft zwei Meter großen Erscheinungen, die zum Spaß töteten und von denen sich manche sogar als Menschen tarnen konnten. Obwohl, das mit dem Honig passierte auch den großen Exemplaren, was bei einem Auftrag ganz praktisch war.

Neben diesen Dingern gab es noch einige mehr – einfach unzählige Möglichkeiten. Die hohen Punkte für diesen Auftrag resultierten aber nicht nur daraus, dass man nicht wusste, worum es sich handelte, sondern weil es eine abgeschiedene, ziemlich jägerfreie Gegend war. Amerika und Kanada waren seit jeher die Orte mit der höchsten Konzentration an Jägern. Vermutlich weil einer der ersten Jäger Abraham Lincoln gewesen war, der damals höchstpersönlich die Jägergilde in Amerika eingeführt hatte. Noch immer gab es in den hohen Regierungspositionen Menschen - meist mit magischen Fähigkeiten, manchmal auch ohne -, die über die Gilde und die wahren Monster Bescheid wussten. Diese unterstützten uns oftmals nur noch im Hintergrund, verschleierten dieses oder jenes, damit unsere Existenz sowie die des Übernatürlichen unentdeckt blieb. Außerdem finanzierten sie größtenteils die ganze Sache. Auf die Jagd selbst gingen sie nicht mehr, so wie damals unser guter, alter Abe.

Wer nicht in einer der angenehmeren Positionen arbeitete und selbst Gildenjäger wurde, hatte meist mindestens einen Elternteil, der Jäger der Gilde war, manchmal sogar Vater und Mutter. Jagen lag den meisten im Blut, wie die Magie selbst. Zum Teil war sicherlich auch die Erziehung daran beteiligt. Obwohl wir im Geheimen operierten, war unsere Gesellschaftsschicht die gleiche wie die gewöhnlichen: Arbeiter blieben meist Arbeiter, sprich Jägerkinder wurden zu Jägern. Andersherum machten sich besser privilegierte, magiehaltigere Menschen ungern selbst die Hände schmutzig. Dafür waren ja wir da.

Natürlich gab es Ausnahmen dieser ungeschriebenen Regel, doch die waren selten. Manchmal kam es auch zu einem Generationssprung, was die Nachkommen in Gefahr brachte und unweigerlich in diese Welt stolpern ließ. Entweder fielen sie durch das System, weil ihnen niemand erklären konnte, welche Fähigkeiten sie besaßen, und wurden dadurch oft zu Bestienfutter, oder sie wurden von jemandem, der über Magie und den Rest Bescheid wusste, gefunden und dieser half ihnen, sich besser zurechtzufinden und zu überleben.

Ganz klar, es gab auch Leute, die Bescheid wussten, aber nichts mit dem Ganzen am Hut hatten: wie zum Beispiel Kinder von Jägern ohne vermehrte Magie, oder Menschen, die zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren und Dinge sahen, die sie nie wieder vergessen würden. Oft waren sie vernünftig genug, darüber zu schweigen und nicht zur nächsten Talkshow zu laufen. Die eine oder andere Einschüchterungstaktik half dabei und falls nicht, tat es genügend Bestechungsgeld.

Nachdem ich mich umgezogen und alle erhältlichen Informationen auf meinen HandChip abgespeichert hatte, verabschiedete ich mich von Billy Joel und Gertrude.

„Schätzchen, ich muss los. Macht ja keinen Mist, während ich weg bin", rief ich in den Raum und sofort hörte ich sie heranwuseln und leise quietschen. Wie immer, wenn ich mich verabschiedete, spielten sie für einen Moment verrückt, was wie zu einem kleinen Ritual bei uns geworden war. Billy biss in meine Socken und zog daran, während Gertrude sich in meinen Nacken krallte, dann den einen Arm rauf- und den anderen wieder runterlief, nur um das Ganze ewig zu wiederholen, bis ich sie mit einer Hand sachte im Nacken packte.

„Ist ja gut, ist ja gut. Mami kommt bald wieder. Jetzt seid nicht so sentimental, sonst bekommt ihr kein Leckerli", warnte ich milde.

Man sollte meinen, ich wäre der Rudelführer und würde somit den Ton angeben. Weit gefehlt. Ich war froh, wenn ich mit der Geschwindigkeit der beiden mithalten konnte und so wie jetzt beide erwischte, um sie noch einmal zu knuddeln und dann abzuschütteln. Doch als das Machtwort – Leckerli – gesprochen wurde, waren sie plötzlich ganz brav. Und Schwupps, saßen sie wie die süßesten, folgsamsten Frettchen auf der ganzen Welt vor mir auf dem Teppich, die Nasen in die Höhe gestreckt, und warteten auf ihre Belohnung.

Die beiden würden während meiner Abwesenheit nicht nur genügend Verpflegung bekommen, die gefüllten Futterboxen dienten im hinteren Teil sogar als Toilette und reinigten sich selbständig. Das war das wahre Wunder an den Boxen! Für die beiden war also gesorgt, trotzdem würden ich sie in den nächsten Tagen vermissen. Noch einmal ließ ich meine Finger durch ihr kurzes, seidiges Fell gleiten, dann streute ich ein paar der versprochenen Leckerlis auf den Boden und stand widerstrebend auf. Mann, Jess. Jetzt werde ja nicht sentimental!

Bei dem Gedanken verzog ich den Mund und drehte mich mit Sack und Pack Richtung Ausgang, um mich auf den Weg zu machen.

Aus der Garage, die eigentlich ein Lagerraum für meine Waffen und allen möglichen anderen Krimskrams war - da ich gar kein GleitAuto oder Bike besaß –, schnappte ich mir mein GleitBoard. Immerhin. Mit einem Ruck hievte ich den schweren Rucksack auf meine Schultern, sperrte von außen das Garagentor zu und verstärkte den Schutzzauber, als ich aus dem Steinkreis trat. Leichtfüßig sprang ich mit meinen SoftLeder-Boots auf das schwarz-silberne Board - das wie ein längeres, breites Skateboard ohne Räder aussah - und glitt damit, einen halben Meter über dem Boden schwebend, davon. Man musste sich nur in die gewünschte Richtung lehnen und das Board sauste in diese. Die GleitBoards funktionierten wie die GleitAutos – kurz: Gleiter - ohne Benzin oder den ganzen Mist, der früher als Treibstoff die Umwelt verpestet hatte. Sondern ganz einfach über die Geothermik, mit deren Wärme und Schwingungen GleitFahrzeuge betrieben wurden. Reine Wissenschaft. Genauso wie die überaus schnellen GleitZüge, zu denen ich auf dem Weg war.

Am Bahnhof Montreal angekommen, fand ich schnell mein Gate. Alles war in hellem Weiß gehalten, machte einen freundlichen Eindruck auf Besucher und Abreisende. Die einzigen Farbkleckse waren die leicht durchsichtigen Röhren, durch die die GleitZüge schossen und blaugrünlich schimmerten.

Auf dem Bahnsteig war ich ziemlich allein, da ich mitten in der Nacht reiste, was sonst nicht viele taten – außer eben Ausreißer oder Kleinganoven und vereinzelte Businessleute. Ich wusste nicht, zu welcher Gruppe ich selbst gehörte. Jayden würde mich wohl zur ersten zählen. Ihn wollte ich erst in einigen Tagen anrufen, wenn er sich beruhigt hatte.

Mit einem schweren Ächzen ließ ich mich wenige Minuten später auf den ledernen Sitz fallen und schloss die Augen, um zumindest die nächsten fünf Stunden zu schlafen, die der GleitZug nach Jeseník brauchte. Dort würde ich mir eine billige Absteige und ein paar Utensilien beschaffen, um schließlich sofort mit dem neuen Fall anzufangen.


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MONSTER GEEK: Die Gefahr in den WäldernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt