Kapitel 1

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Depressionen sind wie ein Regenmantel, den man immer trägt, selbst bei strahlendem Sonnenschein.
~Brooke Shields

Mit hängendem Kopf sitze ich auf meinem Bett. Ich will es nicht glauben. Heute ist Montag, Anfang September. Vor genau zwei Jahren ist Paula gestorben. Ich komme mit ihrem Tod immer noch nicht klar. Es reißt mir wieder den Boden unter den Füßen weg. Seit dem Unfall hat sich vieles verändert. Über neun Monate war ich in der Psychiatrie. Anschließend eine ambulante Therapie. Auch heute hasse ich die Polizistin noch dafür, dass sie mich in die Klinik gebracht hat. Noch immer spaltet sich meine Meinung darüber.

Mein Herz rast, als ich aufstehe und zu meinem Kleiderschrank gehe. Ich will nicht in die Schule. Eigentlich möchte ich nirgendwo hin, doch ich weiß, dass meine Pflegemutter das nicht zulassen würde. Sie würde sich Sorgen machen. Sie liebt mich und meint es nur gut mit mir, aber ich kann mit ihrer Liebe nicht umgehen. Die einzige Person, die mich immer geliebt hat, war meine große Schwester. Diejenige, die ich bei dem Unfall verloren habe. Bis heute habe ich nicht über alles gesprochen.
Auf irgendeine Art und Weise habe ich mein Leben in der Klinik wieder lieben gelernt, aber ich kann das nur schwer akzeptieren. Der Tod taucht immer mal in meinen Gedanken auf, doch meine Schuldgefühle begleiten mich jeden Tag. Ich verkrafte sie nicht. Ich hätte sterben sollen, nicht meine Schwester.

»Lou, kommst du?«, ruft Katharina und taucht in der Tür zu meinem Zimmer auf.
Sie ist eine der wenigen, die fast alles über mich weiß, und der ich vertraue. Zumindest in Bezug auf das, was ich ihr sage.
»Ich kann heute nicht«, erwidere ich leise. Eine Träne verlässt mein Auge und läuft meine Wange hinab.
»Hey, nicht weinen«, antwortet sie und setzt sich neben mich auf die Bettkante. Sanft streicht sie ihre Hand über meinen Rücken und ich lasse mich fallen. Wenn meine negativen Gedanken mal zu stark werden, verliere ich jegliche Hoffnung. Ich kann nichts dagegen machen, es kommt einfach. Sie übermannen mich und entreißen mir den Boden, den Halt im Leben.
Langsam beruhige ich mich, meine Tränen versiegen und ich blicke nach unten. Mir ist flau im Magen und ein leichter Druck bereitet sich in meiner Speiseröhre aus.
»Möchtest du darüber reden?«, fragt meine Pflegemutter liebevoll.
Ich schüttle mit dem Kopf und fokussiere ein Staubkorn auf dem Boden. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, meine Gedanken zu offenbaren.
»Ich bin mir sicher, dass es dir hilft. Wenn nicht mit mir, dann mit jemand anderem«, murmelt Katharina.
Ich halte einen Augenblick inne und gehe alle Optionen durch, vielleicht findet sich eine passende.
»Ich überlege es mir. Aber kann ich bitte zu Hause bleiben?«, frage ich und sehe vorsichtig zu ihr auf. Ich blicke ihr in die Augen und hoffe. Ohne ihre Zustimmung kann ich der Schule nicht fernbleiben. Ansonsten würden sofort sämtliche Alarmglocken in meinem Umfeld losgehen. Frau Weller, meine Klassenlehrerin, würde Katharina anrufen und sie fragen, warum ich nicht im Unterricht sei. Alle würden sofort denken, dass ich mir etwas antun möchte. Das will ich gar nicht. Ich brauche nur meine Ruhe, um das Grab meiner Schwester zu besuchen und zu weinen.
»Lou, du weißt, dass das keine gute Idee ist. Frau Weller wird sich dann bestimmt wieder Gedanken machen und dich beim nächsten Mal danach fragen. Denk nur daran, was sie gesagt hat. Sie wird ansonsten die Vertrauenslehrerin eurer Schule einschalten. Du wirst einmal die Woche zu ihr müssen, damit du keine Probleme bekommst. Ich weiß, das klingt nicht schön, aber vielleicht hilft es dir, in der Schule konzentrierter zu sein.« Sie sieht mich mit einem traurigen Blick an. Mit Sicherheit weiß sie, wie schwer der heutige Tag für mich ist. Dabei kann sie es sich nur vorstellen, gar so fühlen wie ich, kann keiner von ihnen.
Ich seufze. Auf keinen Fall will ich wöchentliche Gespräche mit dieser Frau, auch wenn sie nett ist. Das war schon nach dem Tod anstrengend. Permanent wollte sie mir helfen, doch nur ich selbst kann das.
»Dann versuche ich es, aber ich will nicht, dass mich irgendwer darauf anspricht«, erwidere ich und unterdrücke eine aufkommende Träne. Die Erinnerungen schmerzen. Sie zerreißen mein Herz jeden Tag aufs Neue.
»Du bist stark, du schaffst das. Ich glaube fest an dich und wenn es gar nicht mehr geht, rufst du an«, baut meine Pflegemutter mich auf.
Ich nicke und nehme sie noch einmal in den Arm. Heute brauche ich diesen Halt. Ich denke zwar oft daran, dass ich hätte sterben sollen, aber irgendwie bin ich auch froh, am Leben zu sein. Es geht bergauf und dann wieder bergab. Keiner weiß davon. Niemand ahnt, welche Vorwürfe ich mir mache.
Durch meinen Selbstmordversuch bin ich überhaupt erst von meiner Mutter weggekommen. Es war der Anfang für einen Neustart, auch wenn ich am Boden zerstört war.
An manchen Tagen sind die negativen Gedanken in meinem Kopf so laut, dass ich keinen Ausweg zu finden scheine. Aber eigentlich kann ich das Leben genießen. Mal mehr, mal weniger. Meine Therapeutin hat mir immer gesagt, dass es mit jedem Tag besser werden wird. Heute vermisse ich sie und ihre Sprüche manchmal, aber zugleich bin ich froh, nicht mehr wöchentlich zu ihr zu müssen. All dies sind Momente meiner Vergangenheit, die niemand erfahren soll. Zumindest keiner aus meiner Klasse. Niemand, der in meinem Alter ist und mich kennt.
Obwohl mir nicht danach ist, gehe ich ins Badezimmer und mache mich fertig. Irgendwie werde ich diesen Tag hinter mich bringen.

Leseprobe "Liebe. Verzweiflung. Und zu viel dazwischen."Where stories live. Discover now