Prolog

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Er nannte sie Dämonen, obwohl sie nichts weiter als Ängste, Erinnerungen und Überbleibsel einer verdrängten Vergangenheit waren.

Tagsüber begleiteten sie ihn auf Schritt und Tritt. Sie machten sich schmerzlich bemerkbar, wenn er in den Spiegel sah und sein eigenes Antlitz erblickte. Und nachts. Die Nächte waren am schlimmsten. Alles, was er tagsüber so sehr in Schach zu halten versuchte, stürzte sich nachts auf ihn wie ein hungriges Tier, und er hatte keine Kraft dagegen anzukämpfen.

Der Albtraum sah immer gleich aus: Er begann in einem kleinen, sanft schaukelnden Boot, das irgendwo in der Mitte des schwarzen Wassers eines bewachsenen, längst vergessenen Sees trieb. Schon in diesem Moment wusste er, was als nächstes kommen würde. Unwillkürlich richtete er seinen Blick auf die unbewegliche dunkle Wasseroberfläche. Eine leichte Brise wehte durch sein schwarzes Haar. Sein Atem wurde schwerer und sein Herz schien in seinem rasenden Lauf fast stehen zu bleiben.

Der zarte Nebel, der ihn umgab, sah aus wie Wolken, die vom Himmel heruntergestoßen aufs Wasser gefallen waren.

Seine Hände waren schweißnass, seine Kehle schmerzhaft trocken und seine Lippen rissig. Als er die Lippen vorsichtig öffnete, spürte er, wie seine Haut aufplatzte. Der metallische Geschmack von Blut schien bitter und süß zugleich zu sein. Er schluckte mühsam den Speichel herunter und richtete seinen Blick auf das schwarze Wasser. In der Tiefe sah er einen weißen Umriss, der mit jeder Sekunde mehr und mehr wie eine Hand aussah, die sich ihm entgegenstreckte.

Er fiel auf die Knie. Das Boot schaukelte durch die plötzliche Bewegung, aber das war ihm egal. Er tauchte seine Hände in das kalte, fast eisige Wasser, das die Ärmel seines weißen Hemdes benetzte. Er verzog verzweifelt sein Gesicht, als er versuchte, die ihm entgegengestreckte Hand zu ergreifen. Sie war so blass, dass sie fast unmenschlich wirkte.

Die Gestalt, die ihn leise um Hilfe anflehte, war jedoch zu weit entfernt.

Er stützte sich mit der rechten Hand auf die hölzerne Seite des Bootes und lehnte sich noch weiter vor. Seine Lippen berührten die Oberfläche des Wassers. In diesem Moment begegnete ihm inmitten der Schwärze und Dunkelheit ein Blick: ein Augenpaar, das ihm schmerzlich vertraut war.

Eine blasse Hand umklammerte sein Handgelenk, dünne Finger gruben sich in seine Haut, sodass er nicht mehr zurückkonnte. Plötzlich spürte er einen starken Ruck und wurde in die Tiefe des Wassers hinuntergezogen. Im letzten Moment holte er Luft.

Er war nicht auf die Kälte vorbereitet, die seinen Körper erfasste, als er vollständig in den See eintauchte. Seine Muskeln spannten sich schmerzhaft an, sodass er zunächst nicht in der Lage war, eine Bewegung zu machen, um einen verzweifelten Rettungsversuch zu unternehmen.

Er war am Ertrinken. Er war zu müde, um es zu verhindern.

Die Hand, die sein Handgelenk umfasst hatte, war verschwunden. Er war allein mit der Schwärze um ihn herum. Mit der ohrenbetäubenden Stille. Mit seinem langsam schlagenden Herzen. Er schloss die Augen und ließ seinen Körper in die Tiefe sinken, hinunter in die auf ihn wartende Dunkelheit.

Er bedauerte nicht allzu viele Dinge in seinem Leben. In diesem Moment konnte er sich auf nichts anderes konzentrieren als auf die Stille um ihn herum. Sie war eine Art Trost. Die Welt schien stillzustehen, oder war er vielleicht kein Teil mehr von ihr? Vielleicht war hier, unter Wasser und in der Stille der Dunkelheit, nichts mehr wirklich von Bedeutung?

Er hob seine schweren Augenlider. Ein schwaches Leuchten durchbrach die kalte Wasseroberfläche. Ein kaum wahrnehmbarer, aber sichtbarer Umriss zeichnete sich im grellen Licht ab. Es war eine schlanke Hand mit gespreizten, dünnen Fingern. Sie kam auf ihn zu, zerschnitt die Dunkelheit und zerriss die Stille.

Er war sich nicht sicher, ob er Erleichterung oder Angst empfand, als er die Hand sah. Er spürte jedoch einen Hauch von Wärme, als sie sein Handgelenk ergriff und ihn ins Licht zog. Die Helligkeit zwang ihn dazu, die Augen zusammenzukneifen. Als er einen Moment später seine Augen öffnete, war er weder ertrunken, noch stand er in einem Boot, sondern mitten auf einem hellen Schulflur.

Wasser tropfte von seinen durchnässten Kleidern und fiel auf den Fußboden. Er ließ seinen Blick über die Reihen der orangefarbenen, hohen Spinde gleiten, die sich an den Wänden entlang bis zu den geschlossenen Doppeltüren am Ende des Ganges erstreckten.

Sein Atem wurde ruhiger und sein Herz schlug in einem gleichmäßigen Rhythmus. Er ließ seine Schultern erleichtert nach unten fallen, als er tief seufzte. Erst dann bemerkte er, dass noch immer etwas Warmes sein Handgelenk umfasste.

Er drehte langsam seinen Kopf. Er betrachtete die Gestalt, die neben ihm stand: eine Frau, oder eher ein Mädchen, einen Kopf kleiner als er, zierlich, in ein weißes, bodenlanges Kleid gehüllt. Ihr Gesicht wurde von einer Kaskade langer, schwarzer Haare verdeckt. Ihr Blick war irgendwo in die Ferne gerichtet, vielleicht auf die Tür oder auf das, was sich dahinter befand.

Er öffnete vorsichtig seine Lippen. Er wollte sie fragen, wer sie war, aber bevor er das tun konnte, drehte sie ihren Kopf zu ihm.

Er erschauderte vor Überraschung und Entsetzen. Die Gestalt hatte kein Gesicht: weder Augen noch Mund. Es war nur eine blasse, leere Masse.

Er machte einen ruckartigen Schritt zurück, aber nur einen, denn die schlanke, zierliche Hand umklammerte sein Handgelenk fester und ließ ihn nicht entkommen.

Victor schreckte auf und schnappte nach Luft. Die Luft, die den Raum erfüllte, war angenehm frisch. Der Schlaf war so abrupt beendet worden, dass er es nicht einmal mehr schaffte, seine Müdigkeit hinter sich zulassen.

Er öffnete seine Augen und sein Blick fiel auf die dunkle Decke. Es war noch Nacht, denn durch die halb zugezogenen Jalousien kroch nur die Dunkelheit ins Schlafzimmer. Er drehte seinen Kopf zur Seite. Seine Wange schmiegte sich an das kühle Kissen. Dann sah er auf die digitale Uhr, die auf dem Nachttisch stand. Sie zeigte 4:36 Uhr an. Er hatte drei Stunden und zweiundzwanzig Minuten geschlafen. Weniger als in der letzten Nacht und wahrscheinlich mehr als in der nächsten.

Als er die Augen wieder schloss und sich danach sehnte, in den Schulflur zurückzukehren, um das Gesicht des Mädchens erneut zu sehen, war alles, was er sah, Dunkelheit...

Devil [Germany Edition]Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz