Wo war sie? Alles um sie herum war schwarz. War sie tot? Hatte die Frau sie erstochen? Fühlte sich so der Tod an? Faith spürte ihren Körper nicht. Sie schwebte körperlos im schwarzen Nichts. Sie konnte nicht tot sein... Und wenn doch? Müsste sie nun ewig in dieser Schwärze ausharren? Sie versuchte zu schreien, doch kein Ton war zu hören. Was war nur los mit ihr? Sie bekam Panik. Sie musste diese Schwärze loswerden. Sie musste zurück in dieses Dorf, und ihre Schwester suchen! Jetzt! Sie versuchte, voranzukommen, doch das Schwarz veränderte sich nicht. Plötzlich sah sie einen weißen Punkt in der Dunkelheit. Was war das? Der Ausgang aus dieser schwarzen Hölle? Sie hielt darauf zu, merkte, dass der weiße Punkt immer größer wurde. Immer mehr weißes Licht umschloss sie. Sie fing wieder an, etwas zu spüren. Wärme. Doch immer noch konnte sie sich nicht bewegen. Oder reden. Nun waren es nur noch wenige Schritte, bis zum Ausgang.

Faith öffnete die Augen. Ihre Lider fühlten sich schwer an, ihr Körper erschöpft und kraftlos. Nach und nach kamen ihr die Erinnerungen an die letzten Geschehnisse wieder hoch. Wo war sie? Sie sah nur verschwommen. Verzerrte Stimmen drangen an ihr Ohr. "Sie ist wach", flüsterte eine Stimme nicht weit weg von ihr. Schritte näherten sich, andere entfernten sich. Wo zur Hölle war sie? Sie blinzelte benommen. Sie lag in einem schlichten Bett, nicht gerade im besten Zustand, aber doch gut genug. Der Raum hatte eine Holzverkleidung an den Wänden, die teilweise verbrannt war und man den kahlen Stein darunter sehen konnte. Das Zimmer war sehr groß, am anderen Ende stand ein weiteres Bett, auf dem Zoé saß und eine Suppe löffelte. Wo waren sie? Der Raum wurde spärlich von einer einzigen Laterne beleuchtet, sodass sie nur erkennen konnte, dass jemand neben ihr auf einem Stuhl saß, geschätzte ein einhalb Meter entfernt. Es war der Mann, der die schwarz gekleideten Kämpfer angeführt hatte. Er trug immer noch die Kapuze und das Tuch. Er saß nach vorn gebeugt da und beobachtete Faith mit undeutbarem Blick. Die Novizin fühlte sich unwohl unter dem Blick. Sie versuchte, sich zu bewegen. Zu sprechen. Aber was sie irritierte, waren seine Augen. Das von ihr aus gesehen rechte Auge war dunkel und wirkte normal, aber das linke flackerte in einem silbrig-blauen Ton. Was war mit seinem Auge passiert? Sie setzte sich mühsam auf. "Wer seid Ihr? Was habt ihr mit mir gemacht?", fragte Faith und ihre Stimme klang noch rau und belegt. Neben dem Mann auf dem Stuhl lehnte sich eine Frau gegen eine der steinernen Säulen im Raum. Sie hatte die Arme verschränkt und hatte das Tuch von ihrer Nase gezogen, sowie die Kapuze von ihrem Kopf. Sie musterte Faith ebenfalls mit durchdringendem Blick. Ihre braunen Haare fielen ihr in leichten Wellen über die Schulter und wirkten gegenüber der schwarzen Kleidung eher hell. Nun zog der Mann sich das schwarze Tuch herunter und antwortete Faith mit dunkler, tiefer Stimme: "Ich bin Garrett. Wir haben euch eine Mittel verabreicht, das euch eine Weile betäubt hat. Was für Interesse haben die Templer an euch?" Faith sah eine Narbe, die die linke Gesichtshälfte bedeckte. Seine Haut war blass und seine Augen schwarz umrundet um vollständig im Schatten verschwinden zu können. Faith war nicht überrascht, dass er deswegen fragte. "Templer sind unsere Erzfeinde... Und unsere Mission war es, die Templer in diesem Dorf ausfindig zu machen." Garretts Blick wurde finsterer als er schon war. "Ihr seid Assassinen", bemerkte er trocken und sah Faith unverändert starr in die Augen. Sie konnte nicht aufhören, das silber-blaue Auge zu bewundern. Ob er mit dem Auge sehen konnte? Und wie das wohl passiert war? "Ja. Aber wer seid ihr?", erwiderte Faith nun. Die wenigen Personen, die sich außer Zoé und Faith im Raum aufhielten waren ebenso schwarz gekleidet wie alle anderen, die sie hier bereits gesehen hatten. Mit der Andeutung eines Lächelns lehnte Garrett sich zurück und breitete die Arme aus. "Wir? Wir haben einst in diesem Dorf gewohnt. Doch der Brand hat uns dazu gezwungen, zu stehlen. Und..." Er grinste nun sogar etwas. "Ich bin eindeutig der Meisterdieb unter uns." Die Frau neben ihm gab ein amüsiertes Geräusch von sich. In Faiths Kopf arbeitete es unaufhörlich. Die ehemaligen Dorfbewohner - zumindest die, die den Brand überlebt hatten - hatten alles verloren... Jetzt mussten sie wohl oder übel stehlen. Faith nickte. Auch Assassinen lernten die Kunst, Leuten unbemerkt das Geld aus der Tasche zu ziehen. "Wieso habt ihr uns geholfen?", hakte Faith nun nach und musterte den selbst ernannten Meisterdieb mit argwöhnischem Blick. Diesmal kam ihm die Frau mit kühler Stimme zuvor. "Wir dachten, ihr seid Menschen aus der Stadt. Ab und zu verirren sich ein paar hierher, die wir dann genauso wie euch betäuben und von hier wegbringen. Aber ihr..." "...trugt sonderbare Kleidung", beendete Garrett den Satz und deutete auf die merkwürdig geschnittenen Kapuzen. Wieder nickte Faith. Zoé sah inzwischen zu ihr herüber. Doch Faith ignorierte ihren Blick. "Also... Seid ihr auch Feinde der Templer?" Garrett schüttelte den Kopf. "Wir tolerieren sie, solange sie uns in Ruhe lassen", korrigierte er und stand auf. "Ich muss weg. Es ist spät, ihr habt die Erlaubnis, über die Nacht hierzubleiben." Mit diesen Worten lief er aus dem Raum, nachdem er kurz noch mit der Frau geredet hatte. Er nahm den schwarzen, merkwürdig gebauten Recurvebogen, der an der Wand angelehnt war, und verschwand endgültig. Die Frau stellte sich als Navina vor - und außerdem als Garretts Frau. Sie setzte sich nun auf den Stuhl und Zoé kam zu den beiden und setzte sich mit Faith auf deren Bett. Sie redeten eine Weile, über die Bräuche der Assassinen, über die Tricks der Diebe. Weniger als 20 Leute hatten den Brand überlebt. Damals hatten mehrere hundert in dem Dorf gewohnt. Navina sprach mit angewiderter Stimme von den Templern. Ihre Mission hatten die Novizinnen wohl erfüllt - auch wenn nicht ganz nach Plan. Da fiel Faith wieder ein, wieso sie eigentlich hierher gewollt hatte. "Kennt ihr ein Mädchen namens Asha, ungefähr in meinem Alter?", sprach sie Navina darauf an. Die Braunhaarige überlegte kurz und nickte. "Was ist mit ihr?" Faith starrte in das flackernde Licht der Laterne. "Nun, sie ist meine Schwester..." Navina musterte ihr Gegenüber gründlich, doch es gab keine Zweifel. Die Novizin meinte es ernst. Seufzend erhob Navina sich. "Ich werde sie holen", verkündete sie und verschwand aus dem Raum.

Red SnowWhere stories live. Discover now