Das unsichtbare Band (Yhanchria's Sicht)

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Wertes Tagebuch,
Es ist nun schon gut ein halbes Jahr her, dass ich an diesem Ort angekommen und in deinen Besitz gekommen bin und eines kann ich dir versichern:
Mein Leben ist mit jedem Tag merkwürdiger geworden. Am Anfang musste ich mich erstmal daran gewöhnen, mit so vielen anderen Kindern zusammen zu leben, die ziemlich unfreundlich zu mir sind. Und alles nur, weil eines meiner Beine ein wenig merkwürdig ist, wodurch ich nicht so gut laufen kann. Auch die Haushaltspflichten, die uns hier im Heim aufgetragen werden, fallen mir dadurch ziemlich schwer, weshalb ich diese nur sehr langsam ausführen kann. Und dafür bekomme ich dann immer Strafen und Schläge von der Heimmutter. Sehr zur Belustigung der anderen Kinder, die dann auch noch auf mich eintreten, wenn ich nach der Bestrafung am Boden liege. Ziemlich unfair, aber wenn ich mich wehre, wird es nur noch schlimmer. Das erste Mal, als ich mich gewehrt habe, ist das andere Kind hinterher nicht mehr aufgestanden. Ich weiß auch nicht wieso, aber meine erste Reaktion darauf, von dem Jungen geschlagen zu werden, war, ihm so stark gegen das Kinn zu schlagen, dass sein Genick so komisch wie ein rohes Ei geknackt hat, bevor er sich nicht mehr gerührt hat. Ich glaube, ich habe ihn getötet, auch wenn ich das nicht wollte. Vielleicht haben die anderen Kinder recht, wenn sie mich *Monster* und *Mörderin* nennen.
Ich weiß echt nicht, was mit mir los ist und du bist eigentlich die einzige Person, der ich vertrauen kann. Auch wenn du nur ein Buch bist.
Aber das ist noch nicht alles. Etwa einen Monat, nachdem ich hier angekommen bin, ist es das erste Mal passiert, aber seitdem auch immer wieder. Besonders in Situationen, in denen ich Beistand gebraucht habe. Ich saß in meiner Ecke, genau da, wo ich auch jetzt sitze und habe versucht, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das Verhalten der anderen Kinder mitgenommen hat.
Und plötzlich habe ich eine warme Hand auf meiner Schulter gespürt. Das Problem war nur, dass niemand da war, dem die Hand gehören konnte. Und das hat mir ehrlich gesagt Angst gemacht, auch wenn die Berührung mir das Gefühl von Sicherheit gegeben hat. Und dann war die Hand plötzlich weg und ich habe mich wieder so furchtbar allein gefühlt. Aber gleichzeitig hatte ich auch das Gefühl, dass zwischen mir und der Person, der die Hand gehört, eine Art Band besteht. Als wäre ich nicht mehr ganz so allein auf dieser Welt, auch wenn ich keine Familie habe.
Ich frage mich wirklich, wem diese Hand gehört hat. Vielleicht der Person, deren Lachen ich immer in meinen Träumen höre? Oder dem rothaarigen Mädchen, von dem ich seit dem Tag ab und an träume, wenn ich in diesen komischen Zustand gerate, der nicht ganz ein Schlaf, aber so etwas ähnliches ist?
Denn seit dem Tag, an dem ich die Hand gespürt habe, passiert es immer wieder, dass ich abdrifte und dann plötzlich in einem richtig prunkvollen Gebäude bin, das sich gleichzeitig fremd und vertraut anfühlt. War ich vielleicht schon einmal dort? Immerhin kann ich mich an nichts von dem erinnern, was ich erlebt habe, bevor ich hier hergekommen bin.
Und dort, in diesem prunkvollen Gebäude, sehe ich immer wieder ein hübsches Mädchen, etwa in meinem Alter, mit rotem Haar und so richtig schönen, hellvioletten Augen. Aber irgendwie treibt sie immer Blödsinn, der richtig gefährlich wirkt, wenn sie nicht gerade irgendeinen Unterricht hat. Bei dem Blödsinn würde ich verdammt gerne mitmachen, schon allein, damit ihr nichts zustößt. Irgendwie habe ich den Drang, sie beschützen zu wollen.
Aber eines steht auch fest: Ich beneide sie echt nicht darum, diese ganzen Benimmregeln lernen muss. Himmel muss das öde sein. Aber andere Unterrichte wirken echt interessant, wie der zu Geschichte und so. Schade, dass der nicht echt, sondern nur ein Traum ist, aber ich höre trotzdem gerne zu. Außer, wenn sie Geige spielt, das klingt meistens furchtbar.
Aber das aller komischste ist, dass das Mädchen manchmal in meine Richtung zu schauen scheint und dann so strahlend lächelt. Als wäre sie froh über meine Anwesenheit, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie mich nicht sieht. Denn von den anderen sieht mich dort ja auch niemand. Es ist schon komisch, wie bekannt sie mir vorkommt, wenn ich sie sehe, auch wenn ich ihren Namen nicht kenne. Aber vielleicht ergibt sich irgendwann die Möglichkeit, nach ihr zu suchen. Jetzt versuche ich erstmal, ein gutes Kind zu sein und mich nützlich zu machen. Ich weiß, dass ich vermutlich keine Chance habe, jemanden zu finden, der mich adoptieren würde, aber wenn ich mich nützlich zeige, behält mich vielleicht zumindest die Heimmutter.
Ich weiß, das Leben im Heim ist nicht ideal, auch wenn ich erst ein halbes Jahr hier bin, aber es ist besser, als auf der Straße zu sitzen.
Das habe ich jedes Mal zu sehen bekommen, wenn ich mit den anderen Kindern Besorgungen für das Heim machen sollte. Es ist echt grausig zu sehen, wie manche Leute zugerichtet werden, nur weil sie kein festes Zuhause haben.
Und ein *Krüppel* wie ich hätte es sicher noch viel schwerer, da ich einfach nicht so schnell bin, wenn ich mich bewege.
Auch wenn ich ein ziemliches Talent dafür habe, Leute zu verletzen oder gar zu töten. Immerhin ist das in den letzten sechs Monaten schon mehrmals passiert.
Und ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass es mir so leicht fällt.
Nachdem ich das erste Mal jemanden getötet habe, hat sie angedroht, mich an das nächstbeste *Bordell*, was auch immer das sein soll, zu verkaufen. Und ich will nicht verkauft werden. Und ganz ehrlich, wer würde jemanden wie mich kaufen wollen? Ich bin *verkrüppelt* und noch dazu eine unberechenbare Gefahr, wie die Heimmutter jedes Mal sagt, wenn ich jemanden verletzt oder versehentlich getötet habe.
Vielleicht ist es auch besser, wenn ich das Mädchen aus meinen Träumen niemals treffe. Nicht, dass ich ihr auch noch versehentlich etwas antue. Ich weiß doch selbst nicht, was genau bei mir den Reflex auslöst, jemandem zu schaden.
Aber ich sollte jetzt Schluss machen, bevor dich jemand entdeckt.
Bis demnächst.
~Y

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⏰ Last updated: Oct 31, 2023 ⏰

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Tagebuch zweier SchwesternWhere stories live. Discover now