Prolegomena

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Mortem in occultus

Prolegomena

I


„Schlecht, schlecht, schlecht." Das war alles, was Aemilia hören konnte. Seit Stunden wiederholten sich die Gedanken in ihrem Kopf. „Wer bestimmt eigentlich darüber, ob man gut oder schlecht ist? Warum sollte meine Arbeit schlechter sein, nur weil ich auf andere Methoden bestehe?" Nicht jeden Tag läuft man einem soziopathischen Mörder über den Weg. Am liebsten würde sie ihren neuen Fall mit lauten Schreien feiern, nur hielt sie davon ihr „Auftraggeber" (wie sie ihn gerne nannte) ab. Mr. Jones hatte sie zwar nie offiziell über den Fall informiert, jedoch hatte er nach ihrem penetranten Auftreten beim letzten Revierbesuch die Nase voll. Er schrie sie förmlich an, sie solle nie wieder an einem Tatort auftauchen, vor allem wenn der Mörder noch gar nicht gefasst wurde. Daraufhin bekam sie einen heftigen Brief von Mr. Jones, er war der erste der die Morde als Muster verstand, nachdem er Mrs. Phillery tot auf ihrer Terrasse gefunden hatte. Sie trug noch ihr Nachthemd, welches sich kupferbraun verfärbt hatte. Es tropfte am Geländer herunter in die frisch gepflanzten Lilien. Auch ihre zuvor geblichen Blätter schimmerten nun rötlich. Es konnte kein Zufall sein, das Muster war eindeutig.

„Lampi! tuoni! gorghi! turbi

tempestosi e fulmini!

Tremon l'onde, tremon l'aure,

tremon basi e culmini!

(Entrano dal fondo molte donne del popolo.)

Fende l'etra un torvo e cieco

spirito di vertigine.

Ah!

Tutto è fumo! Tutto è fuoco!

L'orrida caligine

si fa incendio, poi si spegne

più funesta. Spasima

l'universo, accorre a valchi

l'aquilon fantasima,

i titanici oricalchi

squillano nel ciel!"

Es tönt aus Aemilias kleinem Schlafzimmer mit heftigem Schall. Es war ihr zur Gewohnheit geworden die himmlischen Klänge Verdis „Othello" in den frühen Morgenstunden zu genießen. Mit den Beinen verschränkt sitzt sie auf dem Bett, links die mittlerweile kalte Tasse Earl Grey Tee und rechts das kleine schwarze Notizbuch, das sie überall hinbegleitet. Es musste aus dem Nachlass ihrer Tante stammen, schwarzer Lederbund geschmückt von zwei goldene Buchstaben „A. Z."; der erste und letzte Buchstabe des klassischen lateinischen Alphabets. Für was genau sie standen hatte sich ihr nie ganz erschlossen. Ihre Tante war nie bekannt dafür gewesen besonders aufschlussreiche Gespräche zu führen, hätte es sie nicht gegeben, wäre Aemilia das ,,schwarze Schaf" der Familie gewesen. Dennoch musste Aemilia von Zeit zu Zeit an sie denken, hätte sie doch die Möglichkeit gehabt ihre Tante besser kennenzulernen. Ob sie sich dann nicht mehr so allein gefühlt hätte, auch wenn ihr die Einsamkeit ein geselliger Begleiter war. Eine besonders persönliche Seite gab es nicht zu ihr. Man konnte Aemilia nicht kennen, denn sie kannte sich selbst ja nicht einmal. Ihre eigenen Augen erschienen ihr teils fremd, ihr eigener Blick unvertraut. Unerreichbar für die Außenwelt. Und noch weiter entfernt von ihrem eigenen Blick. Ihre Gedanken begannen langsam zu verschwimmen.

Die mittlerweile ausgeblichene Tapete schälte sich leicht von den Wänden, immer wieder hatte Aemilia versucht sie neu anzukleben. Doch war es schwer, eine mindestens 70 Jahre alte Tapete so vorsichtig zu bewältigen, dass sie nicht auf der Stelle zerfiel. Außerdem fiel sie kaum auf zwischen dem Chaos, das seit einigen Tagen in ihrem Zimmer herrschte. Bücher stapelten sich neben ihrem dunklem Holzbett, die verzierten Bettpfosten geschmückt mit darüber geworfenen Klamotten. Vor zwei Tagen hatte man sie zuletzt außerhalb des kleinen Hauses auf der Rustenbury Street gesehen. Man könnte sie fast als mental paralysiert erklären. So sehr vernebelten die letzten Morde ihre Gedanken. Es war noch früh, der Tau noch auf den Fensterläden und Ruhe in de Straßen von Amiryll. In diesem Zustand wirkt die Kleinstadt fast mystisch, ohne auch nur eine Menschenseele. Das schwache Licht in ihrem Zimmer reichte gerade so, um ihre gekrizelte Schrift aus dem Notizbuch zu entziffern. Sie hatte jedes Wort notiert, das Mr. Jones über den Fall verlor. Lilium bulbiferum. Oder doch Hemerocallis fulva. Es wäre besser gewesen, hätte sie mehr als nur ,,Lilie" notiert. Ihre schnelle Schrift war ein reines Monster, dass die Wörter verschluckte und mehr Rätsel aufwurf, als ein willkürlicher Mord je könnte. Mit selbstbewusster Miene strich sie einige Wörter durch und notierte die vermeitliche Übersetzung in rot. Ohne die farbliche Struktur würde sie keine einzige Information aus dem Schrift Codex erlangen. Es war bereits 2 Uhr morgens, als sie noch den letzten Schluck Tee trank und das Notizbuch zu fallen ließ. Das Requiem im Hintergrund war das Einzige, das sie jetzt noch wach hielt. Normalerweise wäre die Arbeit zu so später Stunde kein Problem gewesen, jedoch war dies nicht ihre erste schlaflose Nacht in den letzten Tagen. Selbst sie musste sich von Zeit zu Zeit dem menschlichem Verlangen nach Schlaf geschlagen geben. Doch seit dem 22. Februar war der verminderte Bewusstseinszustand nur noch ein fernes Märchen für sie. Dass sie beide Augen schloss war seit dem Tag ein seltenes Phänomen geworden. An jenem Morgen wurde das erste Opfer, die 26-jährige Anne Salter nach einer Woche vergeblichem Suchens, aus dem nahegelegenem Fluss zwischen Trusom Street und Frangil Cross geborgen. Nur einige Meter vom Weg entfernt den Aemilia jeden Tag lief, wie oft sie schon auf das klare Wasser gestarrt hatte, während sie, wie für gewöhnlich in Gedanken versunken, nach der Lösung eines Rätsels suchte. Dass sie seit einer Woche den leblosen Körper täglich besuchte machte sie krank. Wie konnte ihr eine so auffällige Kreatur nur verborgen geblieben sein? 

Mortem in OccultusWhere stories live. Discover now