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Wie erwartet, schüttelte Ella den Kopf und er biss sich auf die Unterlippe. Alles in ihm pochte schmerzhaft. Es fühlte sich nicht mehr so an wie an jenem Abend bei Mo im Bistro, wo er gedacht hatte, er müsse in die Knie gehen, doch es zog und ziepte weiterhin unangenehm. Ich hätte mir ohnehin nicht erlaubt, mich den Gefühlen vollkommen hinzugeben.

Trotzdem tat ihm Ellas Nähe gut. Jedes Mal, wenn er ihre Hand hielt, schien es ein bisschen mehr in Ordnung zu sein, dass er offenbar kaputter war, als er es sich jahrelang zugestanden hatte. Im Grunde habe ich mir den Gedanken gar nicht gestanden, wenn ich ehrlich zu mir bin. Ella hat mir gezeigt, dass es in Ordnung sein könnte. Zumindest ein bisschen.

Ein Frosch hatte sich jedoch hartnäckig mit seinen Saugnäpfen in seiner Kehle festgesaugt. Nur das offene Interesse in ihrem Blick bewog ihn, die Worte an ihm vorbei zu drücken. „Wir hatten nicht viel Geld, Ella. Um nicht zu sagen, wir waren auf staatliche Hilfen angewiesen. Das ist ok, denk ich, denn meine Mutter hat getan, was sie konnte. Aber na ja, sie hatte keine Ausbildung absolviert, weil sie im letzten Lehrjahr erfahren hat, dass ich unterwegs bin. Sie war gerade mal 17, als sie mich bekommen hat. Soweit ich weiß, waren ihre Eltern nicht sonderlich begeistert. Zumindest hatten wir keinen Kontakt zu ihnen. Wir waren ganz allein."

Bilder tauchten in seinem Kopf auf, die seine Mutter in jüngeren Jahren zeigten, wie sie abgekämpft am kleinen wackligen Küchentisch saß und die Zahlen aus ihrem abgegriffenen Heft addierte, das ihr Haushaltsbuch darstellte. Er konnte nicht ausmachen, wie oft er sie so in ihrer winzigen Küche sitzen sehen hatte. Doch kaum, dass sie mich wahrgenommen hat, hat sich ein Lächeln auf ihre Züge geschlichen. Jedes Mal. Sie hat mich ihre Sorgen nie spüren lassen. Obwohl ich es gemerkt habe, wenn sie welche hatte.

„Ben?" Er blinzelte und nahm verschwommen Ella wahr, die offenbar nach seinen Fingern gegriffen und sie mit seinen verschränkt hatte. Sein Blick fiel darauf und als er den Kopf erneut hob, bemerkte er das Mitgefühl in ihrem Gesicht. Reflexartig hob er ihre Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerknöchel, ehe er sich räusperte.

„Was ich damit sagen wollte: Sie hat ihr Bestes gegeben und mich nie dafür verantwortlich gemacht, dass ihr Leben war, wie es war. Sie hätte es ohne mich besser haben können, weißt du? Aber ..." Seine Stimme wackelte bedrohlich und er holte tief Luft. „Aber sie hat sich aufgeopfert, während ich sie ... Ich hab sie im Stich gelassen."

„Nein, das hast du nicht." Er brauchte den Kopf nicht zu heben, um die leichte Missbilligung in ihrer Stimme zu hören. Zu wissen, dass sie die Stirn gerunzelt hatte und ihr Mund nun eine schmale Linie bildete. Er zuckte instinktiv mit den Schultern.

„Doch, Ella. Klar, ich meine, gegen die Krankheit habe ich nichts ausrichten können. Das sage ich auch gar nicht. Oder besser nicht mehr ..." Erneut verkrampfte sich alles in ihm und er musste sich unterbrechen, um die aufsteigenden Tränen zu schlucken. „Ich hätte nicht ahnen können, dass sie an einer Frühform von Alzheimer erkrankt. Verdammt, Ella, sie ist keine 60 Jahre alt und vegetiert in einem Zimmer in einer Altersresidenz, während sich ihr Verstand rasend schnell verabschiedet, wie es bei den frühen Formen üblich ist. Dabei hab ich ihr doch so viel zurückgeben wollen! Es war nur ... ich hatte Pläne, ok?"

Ella erstickte seinen aufkeimenden Zorn sofort, indem sie lediglich sanft mit dem Daumen über seinen Handrücken strich. Ihre Finger waren kälter als seine und hinterließen ein sachtes Kribbeln auf seiner Haut, dass sich durch seinen Arm Bahnen in sein Innerstes zog. Wie Kühlgel nach einer Verbrennung, das den Schmerz mildert.

Jetzt hob er sein Gesicht doch und schaute Ella in ihres. Ihre Mundwinkel hingen ein wenig und ihre Brauen hatten sich leicht über ihrer Nase schräg nach oben gewölbt, aber der Unmut darauf war verschwunden. Ein Seufzen drang über seine Lippen und er kniff sich mit seiner freien Hand in die Nasenwurzel. „Dieses Haus hier: Ich habe es ursprünglich nicht so geplant, weißt du? Als Becca mir sagte, dass sie schwanger wäre, da ... Es war vorgesehen, dass meine Mutter oben ihre eigene Wohnung bekommt. Ich wollte ihr, nachdem ich endlich diese App verkauft habe, eine Haushaltshilfe anstellen, sie auf Reisen schicken, ihr all das ermöglichen, worauf sie lange Jahre verzichtet hatte. Aber es war zu spät..."

Bitterkeit brannte auf seiner Zunge und er musste trocken gegen den Kloß in seinem Hals schlucken, während Ella schlicht nickte. Dann schürzte sie die Lippen für einen Moment und ihr Blick ging ins Leere. „Deswegen."

„Was ‚deswegen'?" Verwirrt beobachtete er, wie sie sich fing und ihn wieder anschaute. Ihr Gesicht glättete sich, doch ihre Brauen gaben ihren Zügen erneut den Rahmen eines Ausdrucks des Bedauerns. „Du hast die Geschenke gemacht, weil du deinen Wunsch, deiner Mutter das Leben schön zu machen, auf meine Kinder projiziert hast."

„Äh ... hm. Keine Ahnung. Ich habe die Sachen gekauft, weil du es nicht konntest. Ich wollte dich nicht vor den Kopf stoßen oder dich damit geringschätzen. Ich wollte nur ..."

„Dass meine Kinder bekommen, was sie sich gewünscht haben." Er zuckte zustimmend mit den Schultern und nun beugte sich Ella vor und hauchte einen Kuss auf seine Lippen. „Danke."

Er nickte intuitiv, obwohl er eigentlich keine Ahnung hatte, wofür der Dank galt. Doch er merkte, sie diese fünf Buchstaben sich wie ein Funken auf das legten, was heute aufgerissen worden war. Als würde ihre Wertschätzung seiner Geste einen Unterschied machen. Jedenfalls bemerkte er, wie der Kloß in seinem Hals etwas abschwoll. Da sie sich offenbar zurücklehnen wollte, zog er sie an sich, um sich noch einen Moment ihrer Nähe zu versichern.

Er schloss die Augen und atmete Ellas Geruch ein, der das Zittern in ihm ebenfalls etwas zum Abklingen brachte. Dann seufzte er. Sie hatte ihm eine Frage gestellt, auf die er im Grunde nicht geantwortet hatte. „An dem Abend bin ich nach dem Gespräch aus der Bar spaziert. Es ging mir ein wenig besser, nachdem ich so geplatzt war. Ich hab nur mein Glas gelehrt und bin dann gegangen, verstehst du? Da war ich noch nicht betrunken."

Ella hatte sich nun doch zurückgelehnt und schaute ihm skeptisch in die Augen. Ben nutzte die Zeit, um nach seiner Tasse zu angeln und einen Schluck von seinem Kaffee zu nehmen. Irgendwie war seine Kehle jetzt wie ausgedörrt. Dennoch wollte er hier und heute endgültig alle Missverständnisse ausräumen. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie nur dann wirklich ein Wir leben konnten. Ella tat es ihm gleich, als hätte er sie gerade daran erinnert, dass sie ebenfalls viel gesprochen hatte, ohne etwas zu trinken.

Er drehte seinen Kaffeebecher zwischen seinen Fingern, ehe er sich räusperte und bemerkte, dass er sofort ihre Aufmerksamkeit zurückhatte. „Ich hab mich trotzdem entschieden, ein Taxi zu nehmen. Ich fahre nicht, wenn ich getrunken habe. Doch das ist nur ... es tut eigentlich nichts zur Sache. Ich bin also durch die Innenstadt gelaufen und wollte zum nächsten Taxistand. Dabei hab ich an dich gedacht, daran, wie viel du mir bedeutest. Wie gerne ich deinen Schmerz verschwinden lassen würde. Ich habe mir geschworen, das auch zu schaffen. Indem ich dir zeige, dass du dich auf mich verlassen kannst. Als Freund."

„Doch es hat dir nicht gereicht." Ellas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und er zuckte mit den Achseln, bevor er kurz mit dem Kopf schüttelte. Er hörte, wie sie schluckte, und hob die Augen zu ihrem Gesicht.

„Nein, dafür liebe ich dich zu sehr. Ich denke, das war mir da schon bewusst. Doch zulassen konnte ich den Gedanken nicht. Sonst wäre ich ja auch Gefahr gelaufen, dich ganz zu verlieren. Oder?" Sie wich nun seinem Blick aus, zuckte mit den Schultern und bejahte kaum hörbar. Ein trauriges Lächeln spielte um seine Lippen, ehe er nickte.

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Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt