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„Hey, Ella. Ich habe es
mir anders überlegt. Ich
werde dich nicht aufgeben.
Weil ich dich liebe. Und
an uns glaube. Gemeinsam
können wir einen Regenbogen
erschaffen, der dir einen
Weg aus der Dunkelheit
leuchtet. Das weiß ich.
Ich liebe dich. Ben."

Wie so oft schwebten ihre Finger über der Handytastatur und ihre Augen lasen die Worte, die sie noch am selben Abend im Krankenhaus erreicht hatten. Weiterhin flutete sie purer Unglaube, wenn die Bedeutung seiner Zeilen in ihr Bewusstsein sickerte.

Dann konnte sie zugeben, wie sehr sie ihn vermisste. Seine Gegenwart in ihrem Leben. Das Wissen, dass sie nur die Hand ausstrecken müsste, damit er wieder Teil ihres verschrobenen Alltags wurde. Doch im nächsten Moment überfiel sie neue Panik und sie legte ihr Handy zur Seite.

Drei Wochen lang spielte sie dieses Spielchen jetzt schon. Die Sehnsucht nach Ben fraß sie auf, obwohl sie weiterhin wusste, dass sie nicht gut für ihn war. Sein Lächeln verfolgte sie in ihre Träume. Seine Augen blitzten immer wieder auf. Nie hatte sie mehr Emotionen in den Spiegeln einer Seele erblicken können. Seiner Seele.

Von der sie instinktiv sofort gewusst hatte, dass sie verletzter war, als er ihr das hatte vorspiegeln wollen. Sie hatte ihn gesehen. Und er hatte sie erfasst. Ihr jedes Mal gegeben, was sie tief in sich gebraucht hatte, ohne es zu wissen. Aber das alles änderte nichts daran, dass sie sich auch ohne die Wirrungen einer Liebesbeziehung durch ihren Alltag kämpfen musste.

Schon jeden Morgen weiterhin aufzustehen und sich um die Belange ihrer beiden Kinder zu kümmern, verlangte ihr alles ab. Oft war sie längst völlig fertig, wenn sie Max ins Bett gebracht hatte, und sank auf dem Sofa zusammen, ehe sie in Tränen ausbrach. Doch in den Schlaf fand sie selten.

Zu dicht war der Dschungel aus Gedanken, der sie dann umschloss und das Licht verdunkelte. Das wenige, das immer noch hineinfiel und das sie mit beiden Händen festzuhalten versuchte. Ein Seufzen drang über ihre Lippen und sie griff wieder nach ihrem Telefon, um sich den Wecker zu stellen.

Im Grunde brauchte sie ihn nicht. Sie schlief ja doch nicht. Aber die Angst, wirklich einzuschlafen und dann nicht pünktlich aufzuwachen, ließ sie noch schlechter Ruhe finden. Ihre Augen blieben an der Nachricht hängen, die sie weiterhin geöffnet hatte, und ihr Herz krampfte sich ebenso zusammen wie ihre Finger, als sie die darauffolgenden Zeilen von Ben las.

„Das heißt nicht, dass
du irgendwas musst, Ella.
Ich erwarte nicht, dass du
zurückschreibst oder mich
anrufst. Auch nicht, dass
ich dich mit Nachrichten
bombardieren werde. Nur,
dass ich da bin. Wann
immer du die Hand
ausstrecken möchtest,
bin ich da. Denn ich
gebe dich nicht auf."

Wieder entrang sich ein sehnsüchtiges Seufzen ihrer engen Kehle, während sich sein Gesicht vor ihren Augen aufbaute. Automatisch stellte sie sich vor, wie er sie ernst mustern und sie dann in seine Arme ziehen würde. Wie gerne würde sie sich an seiner Brust verlieren und sich vor allem verstecken, was sie marterte.

Immer öfter fragte sie sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, als sie ihn aus ihrem Leben gestrichen hatte. Aber das waren nur Bruchteile eines Moments. Im nächsten sah sie sich in ihrer chaotischen Wohnung um und dachte an all die Dinge, die sie erledigen müsste und es doch nicht schaffte. Dann wusste sie, dass es richtig gewesen war.

Ihre Augen flogen zur SMS, die sie am gestrigen Abend bekommen hatte und der Kloß in ihrer Kehle verdickte sich noch, als sie las:

„Hey, Ella. Ich sitze
gerade in meinem
Wohnzimmer und denke
an dich. Ich bin da.
Mehr wollte ich damit
nicht sagen. Ich liebe dich."

Sie legte ihr Telefon zur Seite und spürte, wie sie zitterte. Ihr war so verdammt kalt. Immer war ihr kalt. Weihnachten stand vor der Tür und ihr wurde übel, wenn sie daran dachte, dass sie noch kaum irgendwas geregelt hatte. Und dass sie dann zwei Wochen allein in der Wohnung herumsitzen würde. Denn die Ferien würden ihre Kids bei Tobi verbringen. Sind die beiden wohl künftig in den Ferienzeiten bei mir, wenn ich sie verliere?

Erneut stieg Panik in ihr auf und sie versuchte, dem Gedanken zu entkommen, wie sie dann weitermachen sollte. Nichts klappte, wie sie es sich vorstellte. Und sie wusste nicht, mit wem sie reden sollte. Sie fühlte sich so allein. Erneut zog sich ein Zittern durch ihren Körper und sie biss sich auf die Lippen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen.

Wenn ihr schräger Humor nicht verschüttet wäre, würde sie darüber lachen, dass sie im Grunde schon total ausgetrocknet sein musste, so viel wie sie flennte. Es war nicht so, als würden Sarah und Juliana nicht versuchen, sie aufzuheitern. Doch wenn die beiden einen Witz nach dem anderen rissen oder über Anekdoten aus der Vergangenheit lachten, fühlte sie sich, als säße sie auf einem fernen Stern.

Als hätte ich mein Licht aus meinem Leben geworfen. Ein Gedanke, der ihr noch mehr zusetzte. Sie hatte sich doch nie wieder von jemanden so abhängig machen wollen. Aber offenbar war ihr das nicht gelungen. Sie drehte sich herum und schloss die Augen. Sie musste schlafen, dann sah die Welt morgen hoffentlich ein bisschen freundlicher aus.

Automatisch erinnerte sie sich an die Nacht, in der sie zuletzt wirklich geschlafen hatte, und fand sich erneut in Bens Armen auf seinem Sofa wieder. Sofort verkrampfte sich alles in ihrem Brustkorb und neue Tränen stiegen in ihre Augen. Ich muss endlich damit aufhören. Es kostet mich nur Kraft, die ich anderweitig brauche.

Sie mühte sich, ihrem Impuls nicht nachzugeben, und schluckte die Tränen hinunter, während ihre Hand reflexartig erneut nach ihrem Handy griff. Vielleicht sollte sie ihm schreiben. Nur einmal. Um ihn wissen zu lassen, dass sie auch an ihn dachte. Doch war das nicht unfair?

Alles in ihr brannte darauf, sich nochmal so geborgen zu fühlen wie in seinen Armen. Aber das Recht hatte sie verwirkt. Dennoch wünschte sie sich gerade, sie könne sich an ihm festhalten, während die Stürme durch ihr Leben tobten. Während sie ihre Kämpfe ausfocht. Kämpfe, in denen sie sich immer mehr verlor. Kann ich überhaupt gewinnen?

„Hallo?" Erschrocken starrte sie aufs Display und stellte fest, dass sie gedankenverloren auf den Hörer über dem Chat gedrückt haben musste. Sie schluckte hart und schnappte nach Luft. „Ella?"

Seine Stimme klang rau. Er hatte bestimmt schon geschlafen. Aber sein tiefer Bariton brachte sofort was in ihr zum Klingen und sie war nicht fähig, etwas zu erwidern. Stattdessen brach sie jetzt in die Tränen aus, die sie sich bereits den ganzen Abend versagte. Statt einer Antwort drang ein Schluchzen über ihre Lippen. Falsch. Alles falsch. Schwäche. Du bist so schwach. Verliererin.

„Ella, ist alles ok?" Sie bemerkte, dass seine Stimme jetzt alarmiert klang und versuchte, etwas zu artikulieren, was ihn beruhigte. Doch sie schüttelte automatisch den Kopf, während ihr immer dickere Tränen über die Wangen liefen und alles aus ihr herausbrach, was sie nicht mehr hatte zulassen wollen.

„Ich vermiss dich so", entkam ihr doch und als ihre Worte im Raum um sie herum schwebten, obwohl deren Klang längst erloschen war, brach sie endgültig zusammen.

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Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt