I. Neue Bekanntschaften

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Emilys Sichtweise

Von mir wurde viel verlangt. Immer höflich sein, sich immer wie eine Lady benehmen, nie auffallen. Als Prinzessin wurde von mir erwartet, dass ich nur wie eine Puppe ohne Charakter als Nebenfigur auftrat. Mein Bruder Eric würde in nächster Zeit den Thron besteigen und ich wurde mein Leben lang in seinem Schatten stehen.

Um ehrlich zu sein, fand ich den Gedanken gar nicht so schlimm. Ich wollte und werde auch nie die Krone wollen. Das überlasse ich gerne Eric. Auch wenn ich mir manchmal nicht sicher bin, ob unsere Mutter das so wirklich gut fand. Sie war schon immer der Meinung, dass die Schiffsreisen meines Bruders nur eine reinste Gefährdung seiner Selbst seien. Wie sagt sie so schön? 'Ihr seit nach einem Schiffsunglück hierhergekommen, ich will euch nicht bei einem verlieren.'

Allerdings hielt das Eric nicht ab. Er segelte weiter übers Meer und wollte neue Welten entdecken.

Während er fasziniert von dem war, was über der Erde lauerte, konnte ich mich schon immer für das begeistern, was unter der Meeresoberfläche wartete. Mutter fand meine Tauchgänge zwar genauso besorgniserregend wie Erics Schiffsfahrten, aber ich glaube, mit meinem Hobby hatte sie sich etwas besser angefreundet, als mit seinem.

Sie sagte zumindest nichts mehr, wenn ich mal wieder einen halben Tag verschwand und klitschnass oder in Handtüchern eingewickelt zurückkam.

Auch heute saß ich zuerst am Stand und sonnte mich ein wenig, bevor ich meine Haare zusammenband und langsam ins tiefere Wasser lief. Die Kälte der See störte mich schon lange nicht mehr.

Mit flüssigen Bewegungen tauchte ich tiefer und betrachtete die Fische, die in verschiedensten Formen und Farben an mir vorbeischwammen. Ich sah die bunten Korallenriffe und bewegte mich durch einen kleinen Eingang in eine große Höhle. Von einem Loch am oberen Ende der Höhle drang Licht hinein. Als ich sah, was alles in der Höhle war, staunte ich auf. Schnell schwamm ich an die Oberfläche, um Luft zu holen und meine Gedanken zu sortieren.

In der Höhle waren Ansammlungen von allen möglichem Dingen, die eigentlich nicht hier unten sein sollten. Auf die Schnelle hatte ich Bücher, Schlüssel an einer Wäscheleine, mehrere geschlossene Schatullen und einen Kronleuchter gesehen. Warum war das alles da in der Höhle? Ich hätte verstanden, wenn ich sowas in einem Schiffswrack gefunden hätte, aber das hätte niemals einfach so dort landen können.

Nachdem ich noch einmal Luft geholt hatte, tauchte ich wieder ab, um mir einen zweiten Blick zu verschaffen. Vielleicht kann mir ja irgendetwas sagen, was hier los ist.

Oder besser gesagt, konnte es mir gleich irgendjemand sagen. Denn mitten in der Höhle schwamm nun ein Meermann. Ich musste mich zusammenreißen nicht schockiert einzuatmen, denn das war unter Wasser bekanntlich nicht vorteilhaft.

Auch er sah mich wenig später und riss schockiert die Augen auf, bevor er näher zu mir schwamm. Er sah zuerst auf meine Beine, dann in mein Gesicht. "Du bist ein Mensch", stellte er fest, was mich aus meiner Schockstarre löste.

Okay, es gibt Meerwesen. Und reden können sie auch. Ich glaube, mein Hirn war gerade überfordert. "Was machst du hier?" Ich wusste nicht, was ich tun sollte, denn antworten konnte ich immerhin nicht. "Kannst du nicht reden?" Ich schüttelte mit dem Kopf. "Hm ... und du kannst nicht atmen, oder?" Wieder schüttelte ich den Kopf. "Ist es dann nicht gefährlich, hier zu sein?" Ein Schulterzucken bekam er als Antwort.

Er legte den Kopf seitlich und musterte mich. "Wie lange kannst du unter Wasser bleiben?" Ich zeigte alle zehn Finger zu ihm und merkte gleichzeitig, dass ich bald wieder auftauchen musste. "10 Minuten? Ist das lang?" Ich nickte, bevor ich nach oben sah. Er folgte meinem Blickfeld.

"Musst du wieder nach oben?" Noch einmal nickte ich und begann nach oben zu schwimmen. "Warte, ich helfe dir."

Er drückte seine Flosse durch und hatte in einem Schwung mit mir aufgeholt, bevor er meinen Arm nahm und mich an die Oberfläche zog. Schnell sog ich so viel Luft ein, wie ich konnte und versuchte danach wieder ordentlich zu atmen.

"Danke schön." Seine Augen glitzerten, während er breit lächelte. "Du kannst also doch sprechen." "Nur unter Wasser nicht." Er nickte und summte verständnisvoll. "Das macht Sinn."

"Wie heißt du?", fragte ich, nachdem ich meinen Atem wieder stabilisiert hatte. Nebenbei unterdrückte ich noch die offensichtliche Feststellung, dass er ein Meermann ist, welche mir die ganze Zeit über die Lippen zu rutschen versuchte. "Arielle und dein Name ist?" "Emily."

Ich streckte ihm eine Hand entgegen, um ihn ordentlich zu grüßen. "Schön, dich kennenzulernen." Er nickte nur und starrte auf meine Hand, als wüsste er nicht, was er damit anfangen sollte. Als ich realisierte, dass er es wirklich nicht wusste, wurde mir die Situation zunehmend peinlich. "Wir geben uns meistens die Hand, wenn man sich kennenlernt."

Er sah mir kurz in die Augen, bevor er wieder auf meine Hand starrte und seine Hand entgegenhielt. Ich nahm sie schnell und schüttelte sie kurz, bevor ich wieder losließ. "Das macht man zur Begrüßung?" Nachdem ich genickt hatte, löste er seinen Blick von seiner Hand und schaute sich in der Gegend um.

"Wo kommst du her?" Ich sah mich um und suchte nach den Spitzen des Schlosses, als ich sie fand, deutete ich in die Richtung. "Siehst du die Spitzen da? In dem Schloss wohne ich."

"Du bist eine Prinzessin?", fragte Arielle lächelnd, woraufhin ich zustimmend summte. In der Ferne hörte ich die Turmglocken läuten, was mich schlagartig dran erinnerte, dass Eric heute von einer seiner Reisen zurückkam. Ich sollte also schnellstens wieder zurück, wenn ich pünktlich da sein wollte.

"Tut mir leid, Arielle, aber ich muss wieder nach Hause." Sein Lächeln verschwand, was mir sofort leidtat. "Sehen wir uns wieder?" "Bestimmt. Du kannst mich ja vielleicht mal am Stand besuchen kommen, da bin ich eigentlich fast immer."

"Vielleicht", sagte er abwegig, bevor er sich verabschiedete und wegschwamm. Ich hätte schwören können, dass irgendjemand seinen Namen gerufen hatte und kurz Panik in seinen Augen erschien, aber ich hätte mir das auch einbilden können.

Mit einem Kopfschütteln schwamm ich zurück ans Ufer, schnappte mir mein bereitgelegtes Handtuch und tapste zum Schloss zurück, um mich umzuziehen.

Wer hätte gedacht, dass ich heute einen echten Meermann treffen würde?

Ich auf jeden Fall nicht.


Abgetaucht (m. Arielle - Arielle, die Meerjungfrau)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt