Kapitel 8

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Ich drehe mich noch einmal unter der Decke um, ohne die Augen zu öffnen. Ich döse eine Weile vor mich hin, ehe mir ein verschwommener Gedanke kommt … wie bin ich hierhergekommen?

Verwirrt ziehe ich die Decke fester um meinen Körper. Ruckartig setze ich mich auf. Seit wann habe ich eine Decke? Frage ich mich entsetzt. Ich befinde mich auf einer kleinen Lichtung, auf der es nichts anderes gibt, außer einem Lagerfeuer.

Die Lichtung ist von gewaltigen Dornenbüschen umgeben. Auf einem Ast eines solchen Dornengestrüpps sitzt ein weißer Vogel. Er schaut mich aus schwarzen, runden Augen und schief gelegten Kopf an. Sein spitzer Schnabel ragt wie ein Dolch aus seinem Gesicht hervor.

Ich blicke zu meiner rechten Seite und kann die Schwerter neben mir liegen sehen. Erleichtert atme ich aus. Ich versuche mich aufzusetzen, jedoch verziehe ich vor Schmerz das Gesicht, denn meine Muskeln sind verkrampft und jeder Zentimeter meines Körpers schmerzt.

Etwas ungelenk setze ich mich auf und blicke erstaunt auf ein wenige Schritte entferntes Lagerfeuer, über dem Fleisch brutzelt. Mühsam stemme ich mich auf die Knie hoch und sehe mich nach Serafine um. Wo ist sie? Frage ich mich, mit einem Gefühl von Verlassenheit.

Ich unterdrücke die aufsteigende Panik und wandere auf der Lichtung umher. Der harte Steinboden in der Nacht tat meinem Rücken gar nicht gut. Gekrümmt laufe ich ein paar Schritte, ehe ich mich unter Schmerzen gerade aufrichte und meine Schultern straffe.

Serafine liegt ebenfalls mit einer Decke ausgestattet etwas weiter rechts von mir hinter einem der großen Steine. Ich nehme meine Decke und lege sie ihr zusätzlich um. Der eisige Wind weht zum Glück nicht mehr so stark. Dennoch ist die Luft kalt geworden und nass.

Der weiße Vogel sitzt noch immer auf seinem Ast auf der anderen Seite der Lichtung und beobachtet mich. Sein Gefieder ist schneeweiß und am Nacken etwas gräulich. Seine Füße sind ebenfalls befiedert und an seinen Füßen sehe ich spitze, scharfe Krallen.

Ich schaue ihn misstrauisch an. „Wer bist du?“, frage ich heiser. Der große Vogel gibt mir natürlich keine Antwort. Ich setze mich mit dem Rücken an einen kleinen Fels, um die Wolken um uns herum zu betrachten.

Ein formloser, grauer Schleier umhüllt uns. Eisige Feuchtigkeit durchtränkt die Luft. Ich schüttelte mich bibbernd, um die Nässe aus meinen Kleidern und Haaren zu schütteln. Den Boden kann ich nicht mehr erkennen. Ich sehe nur eine Wolkenmasse und das Gebirge über uns.

Trotz der frühen Stunde erzeugt die topasfarbene Sonne eine kleine Menge an Wärme. Im Sonnenlicht schimmert und glitzert der Schnee, sodass ich gezwungen bin, die Augen zu schließen. Das Bisschen an Wärme, welche die Sonne hergibt, sauge ich in mir auf und leere meinen Geist.

Nach einer Weile öffne ich wieder meine Augen, aber das gleißend helle Licht blendet mich noch immer. Das Wasser in meinem Haar ist gefroren, sodass es aussieht als trüge ich einen glänzenden Helm. Meine Kleider sind starr vor Kälte.

Ich schließe wieder meine Augen. Als ich sie wieder öffne, blitzt mich ein gelbes Augenpaar an, welches in der Iris dunkelbraun ist. Der spitze Schnabel ist dunkelgrau und nur wenige Zentimeter von meiner eigenen Nase entfernt.

Die Luft hat sich im Gegensatz zu gestern stark abgekühlt, sodass mein Atem in Wölkchen zwischen unseren Gesichtern steht.

Der Vogel blickt mich aus klugen Augen an, ehe er einen hohen, gellenden Ton von sich gibt und zu seinem ursprünglichen Platz zurückfliegt.

Das war keine kluge Idee.

Ich schaue mich erschrocken um. Der große Vogel jedoch zieht jede Feder durch seinen Schnabel, um diese von Schmutz zu befreien. Ich stehe auf und gehe verwirrt zu meinen Schwertern hinüber. Werde ich etwa schon verrückt?

Für einen Turmspieler bist du nicht besonders klug. Ich hätte mehr von einem so mächtigen Spieler erwartet.

„Bist du das?“, rufe ich zu dem großen Vogel. Dieser gähnt und breitet seine großen Flügel aus.

Wer denn sonst?

„Aber du bist doch bloß ein Vogel“, widerspreche ich. „Es sei denn …“, jäh wurde ich unterbrochen, als der Vogel auf mich zuhält. Er umkreist mich.

Sehe ich etwa aus wie ein normaler Vogel?

„Nein.“

Warum denkst du dann, dass ich einer bin?

Ich setze zu einer Entgegnung an, aber der Vogel landet hart auf meiner Schulter. Seine spitzen Krallen bohren sich schmerzhaft in meine linke Schulter.

„Wie kannst du mit mir sprechen?“ Ein weißer Adler, denke ich. Serafine und ich haben in der Tat großes Glück. Er ist die zweite Bauernfigur des weißen Teams. Das Tier blinzelt träge.

Die Spieler eines Teams können sich mithilfe von Gedankenrede miteinander verständigen. So ist gewährleistet, dass sie sich helfen können.

Ich kann seinen Gedankengängen nur ganz langsam folgen. Wie ist das überhaupt möglich?

Es war nicht klug, so weit oben das Lager aufzuschlagen. Es ist bitterkalt hier. Hätte ich euch nicht entdeckt, wärt ihr in der Nacht erfroren.

„Danke“, sage ich ernst. „Du hast uns wahrscheinlich das Leben gerettet.“

Der weiße Vogel neigt leicht seinen Kopf nach vorn. Keiner von uns allein ist so klug wie wir alle zusammen.

„Wie heißt du?“ Fragend sehe ich den Vogel an.

Was ist  bloß ein Name? Große Namen taugen nur dazu, die Menge zu blenden, die kleinen Geister zu täuschen und den Scharlatanen Stoff für ihr Geschwätz zu liefern.

Mit diesen Worten erhob er sich in die Lüfte. Er segelt einmal um die Lichtung herum. Wenn du möchtest, darfst du mich trotzdem Erno nennen. Mit diesen Worten segelt der große Vogel davon.

Schwarz oder Weiß | ᵘⁿᶜᵒᵐᵖˡᵉᵗᵉᵈWhere stories live. Discover now