Kapitel 5

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Die Sonne kämpft sich wieder durch die Wolkendecke. Spärlich fällt das Licht durch das dichte Blätterdach, bricht sich in den Wassertropfen, die noch vereinzelt an den Zweigen hängen.

Langsam gehe ich auf das Mädchen zu. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Das Grün ihrer Augen sticht aus dem sonst so blassen Gesicht. Ihre Wangen sind aschfahl und in ihren Augen tobt ein Sturm.

Ihre Augen sind wie ein Spiegel und ich sehe, wie ihre Gefühle wie ein Boot in Seenot hin und her geworfen werden. Eine Welle von Mitleid überkommt mich. Was hat sie wohl erlebt?

Augenblick muss ich an meine erste Begegnung mit dieser Welt denken. Ich sehe wieder den stämmigen Körper des Bären auf mich zurennen. Der Kopf ist gesenkt und die Ohren angelegt. Ich spüre, wie abermals Angst in mir aufkeimt.

Hat sie etwas Ähnliches erlebt? Ich zwinge das Gefühl der eigenen Angst hinunter und nähere mich ihr weiter. Ich muss wissen, was ihr zugestoßen ist. Doch sie schüttelt bei meinem Näherkommen nur kaum merklich den Kopf.

Tränen strömen ihr ungehindert über das Gesicht. Verzweifelt versucht sie die Tränen fortzuwischen und die aufsteigenden Schluchzer zu unterdrücken, aber es ist zwecklos. Sie entkommen ihr in unkontrollierten Wellen und erschüttern ihren schlanken Körper.

Ich falle vor ihr auf die Knie und ziehe sie in eine leichte Umarmung. Wenn sie wollte, könnte sie diese jederzeit wieder unterbrechen. Doch sie tut es nicht. Vielmehr schmiegt sie sich an meine Brust und vergräbt ihr Gesicht in meiner Halsbeuge.

Alles in mir zieht sich zusammen und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Beruhigend streiche ich dem Mädchen über den Rücken. Mein Tattoo in Form eines Turmes kribbelt dabei wie verrückt.

Ich schaudere und lecke mir über die trockenen Lippen. In meinen Ohren summt es. Die Finger meiner freien Hand zucken. In mir rastet etwas ein und der Druck auf meinen Ohren normalisiert sich langsam wieder, sodass dieser Ton zu einem Rauschen wird. Wie ein Puzzleteil in mir ein, welches immer vergeblich nach seinem Platz gesehen hatte, doch niemals gepasst hatte.

Der Turm erleuchtet auf meiner Haut und ich spüre erneut einen Schauder über meinen Rücken laufen. Eine Gänsehaut rieselt über meinen Körper und hinterlässt ein bleibendes Bild auf meiner Haut. Weiß und kräftig prangt das Zeichen auf meinem Handgelenk. Heftig keuchend sehen wir uns an.

„Was hat es damit auf sich?“, flüsterte Serafine leise. Ich zucke mit der Schulter. „Das weiß ich nicht so genau“, gebe ich schließlich zu. „Ich habe ein anderes Mädchen getroffen...“, ich stocke kurz, als ich an Valerie denke, und schüttele den Kopf.

„Nein, nicht ich habe sie gefunden, sondern andersherum. „Als ich sie brauchte, hat sie mich gefunden.“ Meine Mundwinkel heben sich bei diesem Gedanken und ich muss lächeln.

Im Mondschein schwang sie sich leichtfüßig von Baum zu Baum. Auf ihrem Rücken trug sie einen Rucksack, aus dem spitze Pfeile ragten. Den Bogen hatte sie noch in der einen Hand. Elegant sprang sie von einem tiefliegenden Ast hinunter in das weiche Gras. Ihre roten, offenen Haare umspielten ihr Gesicht.

Ich seufzte bei der Erinnerung. Dann blinzelte ich ein paar Mal und spreche weiter: „Val hat ebenfalls eine Schachfigur auf ihrem Handgelenk. „Ich bin ein weißer Turm und sie ein weißer Springer.“

Das Mädchen nickt und schiebt den Ärmel ihres Kleides ein Stück nach oben, dabei legt sie eine weiße Bauernfigur frei. Als ich jedoch die Blutergüsse und das trockene Blut an ihrem Arm sehe, fällt ein Schatten über meine Züge. „Wer war das?“, knurre.

Mein düsterer Blick huscht zwischen ihr und dem Wald, der uns umgibt, umher. Ich fletsche wütend meine Zähne, wie ein Raubtier, und für eine Sekunde sehe ich in Serafines Augen tatsächlich einen Funken Angst aufblitzen.

„Ich tue dir nichts, keine Sorge!“, versuche ich beschwichtigend zu sagen. „Dir zumindest nicht. „Wir sind auf derselben Seite", füge ich gepresst hinzu. Serafine schluckt und nickt schließlich. „Gut!“ Serafine blickt gedankenverloren auf den Boden.

Ich blicke abermals auf das getrocknete Blut an ihrem Arm. Sie muss meinen scharfen Blick auf sich spüren, denn sie beginnt unruhig auf dem feuchten Boden hin und her zu rutschen. Schließlich seufzt sie. „Du gibst nicht eher auf, bevor ich es dir sage, richtig?“, fragt sie mich resigniert. Ich nicke zustimmend und das tiefe Brummen in meiner Brust verleiht dem etwas Beipflichtendes.

„Na gut“, müde zuckt Serafine mit den Schultern. „Aber nur unter einer Bedingung“, sie sieht mich scharf an. Ich nicke. „Welche Bedingungen stellst du?“, frage ich. „Du wirst mich nicht für verrückt erklären!“

Schwarz oder Weiß | ᵘⁿᶜᵒᵐᵖˡᵉᵗᵉᵈOn viuen les histories. Descobreix ara