Kapitel 4

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Langsam wird es hell! Ein warmer, roter Schein breitet sich aus, noch bevor der glühende Ball am Horizont auftaucht. Goldene Strahlen lassen das Wasser in allen Farben leuchten, die Gischt schlägt gleichmäßig gegen den Fels.

Geblendet von dem gleißenden Licht der immer schneller aufgehenden Sonne, schließe ich die Augen. Bis auf einige entfernte Vogelschreie und das Brechen der Wassermassen zwischen den Felsen ist nichts zu hören.

Mein Blick senkt sich nach unten. Staunend beobachte ich, wie das Wasser sich in Schlangenlinien den Weg nach unten frisst. Ich setze mich erschöpft auf den steinigen Boden der Gebirgsquelle und ziehe meine schmerzenden Beine an den Körper.

Der Anstieg war steil und anstrengend gewesen. Dennoch hatte sich die schweißtreibende Arbeit gelohnt. Der Wind, der hier oben blies, war kühl. Er ließ meine Haarsträhnen leicht im Wind flattern, fuhr über meine nackten Arme und hinterließ eine Gänsehaut.

Zusammengekauert sitze ich auf dem kleinen Felsvorsprung und blicke über das weite Tal, das sich vor mir erstreckt. Die Sonne ist nun vollkommen aufgetaucht und strahlt mit ihrer ganzen Kraft hinunter.

Ich spüre die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Ich merke, wie die Wärme meinem Körper guttut. Meine Muskeln in den Armen und Beinen fangen an, sich zu entspannen. Ich atme langsam ein und aus.

Um mich herum ist es mucksmäuschenstill. Man hört lediglich das Wasser rauschen und ein paar Vögel zwitschern. Es duftet nach Laub, feucht, aber noch nicht modrig. Die Blätter der Bäume bewegen sich leicht im seichten Wind.

Ich schaue mich um. Ich fühle mich erstaunlich wohl an diesem ruhigen Plätzchen. Und obwohl rings um die Quelle herum Bäume stehen, habe ich gerade das Gefühl, unendlich frei zu sein.

Noch einmal atme ich die frische Luft ganz bewusst ein. Es fühlt sich gut an. Ich spüre, dass mein Körper neue Kraft schöpft. Trotz der gesamten Müdigkeit, die tief in meinen Knochen steckt, stehe ich auf.

Kleine Kieselsteine knirschen unter meinen Füßen. Wenn man genau hinhört, klingt jeder Schritt dabei etwas anders. Mit jedem Schritt fällt eine kleine Last von mir ab, die mich begleitet. Die Sorgen des vergangenen Tages rücken für einen kurzen Moment in den Hintergrund.

Ich spüre eine große Erleichterung auf meinen Schultern. Es fühlt sich an, als würden die Bäume des Waldes mir einen Teil meiner Sorgen und Ängste abnehmen. Gleichmäßig und ganz ruhig atme ich ein und aus.

Meine Schultern werden lockerer und ich spüre, wie sich ein leichtes, befreites Lächeln über meine Lippen legt. Ich seufze zufrieden aufblicke kurz auf die Quelle zurück. Gemütlich schlenderte ich den kleinen Pfad zurück in den Wald.

Den Waldweg entlang schaue ich mir das satte Grün der Bäume und Sträucher an und genieße die frische Waldluft. Beim nächsten Einatmen schaue ich einmal in die prächtigen Baumkronen und verharre einen Moment.

Beherzt schreite ich schließlich voran. Der Gedanke an Valerie treibt mich an. Wie es ihr wohl gerade ergeht? Ist sie gesund? Lebt sie überhaupt noch? Mich fröstelt es bei diesem Gedanken.

Die Waldgeräusche, der Gesang der Vögel, das Fallen von Blättern und das Rascheln im Laub, werden plötzlich leiser. Es scheint, als ob sie für mich in den Hintergrund rücken. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und knipst ihr Licht aus. Mit einem Mal ist es totenstill und dunkel.

Meine Nackenhaare stellen sich auf. Ich spüre plötzlich eisige Kälte, die wie Stacheldraht mein Herz umklammern. Ich bleibe stehen. Der Wald scheint dunkel und kalt. Die dünnen Äste strecken ihre knorrigen Hände nach mir aus. Nichts ist mehr übrig von der Wärme und dem Gefühl der Freiheit.

Mitten aus dem Nichts taucht plötzlich ein kleiner Schmetterling, hellgelb, fröhlich, flügelschlagend, auf. Der Schmetterling glitzert, glänzt und tanzt um mich herum. Er fliegt weiter, dreht sich um, kommt zurück und wiederholte das mehrmals.

Fliegt voran und kommt wieder zurück. Endlich verstand ich ihn, er wollte mir den Weg zeigen. Neugierig folge ich ihm, bis nach einer Weile eine Gabelung erscheint. Ich biege ab, als ich in der Ferne das erste Donnergrollen höre.

Als ich nach oben sehe, ist der bis eben noch strahlende Himmel schon zur Hälfte mit dicken Gewitterwolken verhangen. Ihr Grau war so schwer und voll, dass es nur noch Sekunden dauern konnte, bis sie sich über mir ausgießen würden.

Zwischen den Bäumen weht der Wind bereits die kalte Luft hindurch, die weitere Wolken mit sich bringen. Mit jedem Atemzug riecht es mehr nach Regen. Die Vögel flattern nervös durch die Baumkronen.

Zwischen jedem Auftritt meiner Füße und jedem knackenden Ast unter meinen Füßen scheint ein Vakuum zu entstehen. Dann kracht in der Ferne ein gewaltiger Blitz vom Himmel, gefolgt von einem einsamen Regentropfen, der sich auf meinem Kopf mit meinem Schweiß vereinigt und langsam über meine Wangen hinunterläuft, an meinem Kinn abperlt und schließlich von meinem T-Shirt aufgesogen wird.

Der Weg vor mir schlängelt sich am Hang entlang zwischen den Fichten und Birken hindurch wieder nach unten. Das langsame, ungleichmäßige Tapsen der Regentropfen wird immer lauter, bis ich die Nässe trotz meines Tempos auf mir fühlen kann.

Ein grauweißer Regenschleier schiebt sich immer weiter zwischen mich und den Wald. Gleichzeitig verfällt der Himmel in eine polternde, grollende Raserei und schießt im Minutentakt feurige Blitze auf die Erde. Es dauert nicht lange, bis sich der Pfad vor mir in ein Rinnsal verwandelt hatte, in dem Blätter und kleinere Äste ins Tal hinab geschwemmt werden.

Wo eben noch die Vögel gesungen hatten, schimpft nun der Donner. Ich suche ein Muster im Regen, der in verschiedene Richtungen auf mich zu fallen schien, doch immer, wenn ich ihn zu entlarven drohte, wechselt er die Richtung. Die Temperatur ist gefühlt um zehn Grad gefallen.

Ich streiche mir die pitschnassen Haarsträhnen aus dem Gesicht, schlinge meine Arme um den Körper. Angestrengt lausche ich dem Platschen meiner Schritte im Matsch. Ich bleibe stehen und sehe mich um. Nichts als triefende Bäume und Pfützen.

Der Schmetterling ist verschwunden. So plötzlich wie er gekommen war, ist er auch wieder fort. Im Matsch glaubte ich, einen Fußabdruck zu erkennen, doch das konnte nicht sein. Jede Fährte wäre bei diesem Gewitter gerade nach ein paar Sekunden verwischt worden.

Genau in diesem Moment ertönt ein ohrenbetäubendes Donnern am Himmel, sodass mir das Herz in die Hose rutscht. Der Blitz folgt dem Donner und erhellt für kurze Zeit den dunklen Himmel. Dort am alten Baumstamm hatte ich das Gefühl, jemanden kauern zu sehen.

Der Regen wurde weniger. Und mit jedem Tropfen weniger, der vom Himmel fiel, kam allmählich die Wärme und alle Geräusche des Waldes von weit her wieder zurück. Ein einsamer Sonnenstrahl kämpft sich durch die Wolken und erhellt die bis eben dunkle, trauernde Welt.

Die Wolken ziehen weiter und geben die Sonne wieder frei. Und richtig, am alten Baumstamm unweit von mir entfernt kauerte ein Mädchen. Ihre kurzen blonden Haare klebten ihr nass im Gesicht.

Das weiße Kleid, welches sie trug, umhüllt ihren Körper wie eine zweite Hautschicht. Mit einem Mal hob sie ihren Kopf und ich begegnete ihren stechend grünen Augen. Der Ausdruck in ihnen ließ mich unwillkürlich zusammenzucken.

Schwarz oder Weiß | ᵘⁿᶜᵒᵐᵖˡᵉᵗᵉᵈWhere stories live. Discover now