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Die Brücke stand einsam da, über der funkelnden Reflektion des Wassers, der Stein bildete einen Bogen über der Schlaufe des Wasserstroms. Hier stand ich nun. Oben, auf einer Brücke. Hinter mir der alltägliche Verkehr. Hunderte Leute. Alle haben verschiedene Leben, Herkunft, Ziele. Immer wenn ich andere Menschen sehe, schaue ich ihnen beim Leben zu, ohne selber richtig zu leben. All diese Leute liefen an mir vorbei. Als wäre ich unsichtbar. Vor mir ein tiefer Abgrund, am Boden Wasser. Mein Ende. So sollte es enden. Diese Qualen konnte ich nicht mehr ertragen. Seit Jahren wurde mir alles zu viel. Jetzt wollte ich mich endlich befreien. Noch bevor ich es mir anders überlegen konnte, kletterte ich über das Geländer der rostigen Brücke. 1..2..3, Sprung! Eine kühle Brise in meinem Gesicht, Wind der meine Haare wie wild tanzen ließ. Freiheit. Alles, was ich danach noch spürte, war der harte Aufprall. Dann wurde alles schwarz und eine zuckersüße Stille umgab mich.

Ich hörte ein Piepen. Warum hörte ich denn ein Piepen? Sollte es nicht vorbei sein? Hatte ich schon wieder vesagt? Jetzt unterhielten sich Leute. Drei. Woher kamen diese Stimmen? Lebe ich noch? Endlich erbrachte ich die Kraft meine Augen zu öffnen. Ein grelles Licht, eine weiße Decke. Ein Krankenhaus. Mein Blick wanderte durch das Zimmer. Zwei Ärzte unterhielten sich mit einer Schwester. Warum war ich noch hier? Konnte ich nicht endlich erlöst werden? Ich hätte hier und jetzt das Schreien anfangen können, doch es kam nichts. Ich wollte anfangen zu weinen, keine einzige Träne entwich meinen Augen. Was war los mit mir? War ich mittlerweile so emotionslos geworden? Aber ich spürte doch Emotionen. Ich war verbittert, wütend, traurig, am Ende. Warum trat das nicht aus mir raus? Ich will meine Gefühle nicht in mir vergraben, bis sie mich Stück für Stück auffressen, wie Parasiten.

Das Gespräch der Ärzte und der Schwester lief über meinen Kopf hinweg. Ich konnte sie hören, doch es war so als würden sie in einem anderen Zimmer sprechen, nicht hier. Mein Körper fühlte sich nicht an, als gehöre er zu meinem Gehirn. Das Ganze war so surreal, als würde ich aus dem Körper eines anderen Menschen ausblicken. Die Ärzte bemerkten, dass ich aufgewacht bin. „Hallo Herr Schneider, können Sie mich hören?“ Seine Stimme klang wie ein einziges Rauschen. Kein schönes, wie das Meeresrauschen. Eher, wie ein Radiosender mit gestörtem Empfang. Mir wurde mit einem Stift in die Augen geleuchtet, wodurch ich kurz zusammen zuckte. „Beide Pupillen reagieren auf Licht“, vernahm ich wieder eine Stimme. „Herr Schneider, hören Sie mich?“, fragte der Arzt erneut. Ich wollte sprechen, doch ich konnte nichts sagen. Ich konnte nicht. Ich wollte nicht. Ich wusste nicht. Was ist hier mit mir los? Wie lange war ich weg? Was ist mir der Zeit passiert? Wo waren die Stunden, wo die Minuten?

Die Ärzte begannen sich zu unterhalten und ich konnte wieder ein bisschen ausblicken. Mein Gehirn fühlte sich an, als ob ich auf einer Luftmatratze liege. Alles fühlte sich so schwer und unwirklich an.
„Warum spricht er nicht?“, hörte ich einen Arzt sagen. „Ich versteh es nicht. Sein Gehirn funktioniert zwar, aber es reagiert nicht mehr. Wir müssen ihn zu einem Neurologen weiterleiten“ Ich verfiel in Panik. Sie mussten irgendwie wissen, dass ich sie warnehmen konnte. Das Einzige, das ich zustande brachte, war ein kleines Zucken meiner Finger. Der Arzt bemerkte dies. Plötzlich hatte ich wieder meine eigenen Gedanken. 'Bitte lass es jetzt vorbei sein. Bitte lass mich jetzt sterben', dachte ich. „Herr Schneider, haben Sie mich verstanden?“ Ich wollte unbedingt antworten, doch es ging nicht. „Herr Schneider?“ Ich brachte ein kleines Nicken zustande. „Schön, Sie wieder unter uns zu haben“ Er lächelte mich an, dann trat der andere Arzt an mein Bett. „Wir mussten, während Sie weg waren, eine Operation durchführen. Normalerweise warten wir, bis der Patient wach ist, damit wir die Einverständnis bekommen, aber in Ihrem Fall gab es keinen Weg dran vorbei. Wie Sie vielleicht schon gesehen haben, Ihr Arm ist gebrochen, ebenso wie Ihre Nase. Am ganzen Körper verteilt weisen sich ausgedehnte Blutergüsse und starke Schürfwunden auf. Beide Beine sind verstaucht und Sie hatten innere Blutungen, die wir aber durch die Operation behandelt haben. Auch, haben Sie vielleicht schon bemerkt, wir mussten Ihnen eine Magensonde anlegen. Ihr Körper ist so stark unterernährt, dass er das alleine nicht mehr lange aushalten würde. Wir fangen mit 800 Kalorien an und arbeiten uns hoch auf 1.500. Sie werden noch etwas Zeit mit uns verbringen müssen, aber nach Ihrem Aufenthalt geht es in die Psychiatrie. Dort werden Sie in guten Händen behandelt. Sie können von Glück reden, dass Sie noch leben“

achlysWhere stories live. Discover now