Eins - Der Schicksalstag

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Ich erinnere mich, dass die Sonne mich an jenem Tag wachkitzelte. Meine Eltern waren bereits vor Stunden zur Arbeit gegangen. Um sicher zu gehen, dass auch ich aufstand und mich auf den Weg zur Schule machte, hatte meine Mutter die Vorhänge in meinem Zimmer aufgezogen und nun fiel helles Sonnenlicht auf mein Gesicht. So gern ich mich auch wieder in die weichen Kissen gekuschelt hätte, ich musste aufstehen.

Es war der Tag der Zwischenbeurteilungen; das bedeutete, dass ich zur Hälfte des Semesters eine Einschätzung meiner Leistungen bekam. Keine wirkliche Bewertung, nur die ungefähre Tendenz, wie es am Ende des Jahres auf meinem Zeugnis aussähe. Schon immer dachte ich, dass es nur darum ging, die Eltern vorzuwarnen, was auf sie zukam. Nicht die schlechteste Taktik, denn so wurden vermutlich viele Todesfälle verhindert.

Ich war gerade sechzehn und nichts graute mir mehr, als Zeugnisse in jeder Form – schwarz auf weiß, der Beleg meiner Mittelmäßigkeit. Doch sie kamen immer wieder, alle Vierteljahre und ich holte sie mir jedes Mal brav ab. Wenn ich schon unterging, dann mit Würde.

Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es acht Uhr war. Noch zwei Stunden.

Feindselig blinzelte ich hinaus in den wunderschönen Tag, der sich über mich lustig zu machen schien.

Ich schlurfte in das kleine Badezimmer unserer Vier-Raum-Wohnung und stellte mich unter die Dusche. Eine halbe Stunde hatte ich Zeit, um mich unter dem warmen Regen ganz meinen Gedanken zu widmen. Innerhalb eines Augenaufschlags konnte ich im Regenwald stehen oder eine Auszeichnung entgegen nehmen. Ganz wie ich wollte.

Ich schäumte mich kräftig mit so viel Duschgel ein, wie in meine Handfläche passte und schrubbte meine Haut mit einem groben Schwamm. Dann meldete sich mein Magen.

Ich überlegte kurz, ob ich aufs Essen verzichten und noch länger duschen sollte. Andererseits musste ich in der Schule ein paar Stunden durchhalten, bis es Essen gab. Ohne Frühstück aus dem Haus zu gehen, fiel also flach.

Lustlos suchte ich mir ein paar Sachen für den Tag zusammen – eine Jeans, ein rosa T-Shirt und eine weiße Bluse gegen den Wind. Es war bereits Juni, doch morgens wehte noch eine kühle Brise, die mir zwar die Haare trocknen, mich aber auch mit einer Erkältung niederstrecken konnte.

Aus der Wohnküche hörte ich bereits das Rufen und Jubeln der Sportsendung, die wie immer im Fernsehen lief und ich wusste, ich war nicht allein. Nun ja, er war mir sehr viel lieber als meine Eltern.

»Hi Mae, Eier und Schinken sind in der Pfanne. Hättest du dich im Bad beeilt, wären sie auch noch warm«, begrüßte mich Noah vom Sofa aus, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen. Mein großer Bruder. In der Sekunde, in der er mich im Bad gehört hatte, hatte er sich bereits an den Herd gestellt, um mir Frühstück zu machen. Natürlich.

Ich murmelte ein leises Danke und setzte mich an die kleine Theke, die unsere Küche vom Wohnzimmer trennte, in dem nicht viel stand außer dem Fernseher, zwei Sesseln und einem Sofa, alles abgerundet durch einen flauschigen Teppich. Während ich aß, beobachtete ich meinen Bruder, wie er sich über die Ergebnisse der Sportsendung aufregte.

Meine Eltern hätten es selbstverständlich niemals zugegeben, aber sie liebten Noah mehr als mich.

Und wer konnte es ihnen verübeln? Wäre ich damals an ihrer Stelle gewesen, ich hätte meine Karten auch jederzeit auf ihn gesetzt, nicht auf mich.

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