Kira stand wie gebannt. „Das ist ... beeindruckend", brachte sie hervor. „Aber das werde ich nie hinkriegen."

„Doch, das wirst du, das wirst du", entgegnete Ombrine gelassen, erhob dann eine Hand, fasste in den fließenden Strom und zog die Lichtmassen wieder herunter, als ziehe sie einen Reißverschluss auf.

„Du hast den Vorteil, dass du Training bekommst. Die Technik hat sich über Jahrhunderte hinweg verfeinert, wohingegen Korbinian immer noch bei seinen primitiven Dunkelpfeilen und Schwarznebel geblieben ist."

Kira schluckte. Ihr Mund war plötzlich staubtrocken. „Trotzdem hoffe ich, dass ich nie gegen ihn kämpfen muss", würgte sie heraus. „War er nie hier in der Ausbildungsstätte?"

Ombrine schüttelte resolut den Kopf. „Natürlich nicht. Wie sollte er?"
*

Kira hatte schon befürchtet, dass die goldschimmernden Muster auf ihrer Haut für immer bleiben würden. Eigentlich sah es ja auch schön aus. Irgendwie hatte sie sogar angefangen, sie zu mögen. Doch nach drei Tagen im Wald begannen die geschwungenen Linien zu verblassen. Noch ein paar Tage später war nichts mehr davon zu sehen. Als sie einen Hauch Enttäuschung darüber verspürte, war sie selbst überrascht.

Übrig geblieben waren nur ein paar einzelne, golden schimmernde Strähnen in ihrem Haar, die auch bei festem Rubbeln im eiskalten Brunnenwasser ihren Farbton nicht verloren.

„Als hättest du sie gefärbt", meinte Joella.

„Nur schöner", sagte Lian und errötete leicht. Kira brummte nur etwas Unverständliches. Seit der Cavea gab es ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen ihnen. In ihren Gesprächen ging es nur darum, wer kochte oder beim Abwasch half, wer die Hühner fütterte oder wo die Blitzschleuder aus einem Zimmer hingekommen war. Sie wich ihm aus, so gut es denn möglich war. Und es war leicht möglich. In dem riesigen Haus mit seinen Gängen und Zimmern, dem Wald mit seinen versteckten Pfaden, Seilbrücken und Plattformen war es ein Leichtes, sich aus dem Weg zu gehen. Lian schien penibel darauf bedacht, ihr Freiraum zu lassen und sie nicht zu bedrängen. Vielleicht nervte ihn ihre abweisende Art ja auch. Doch seine frech-arrogante Art ihr gegenüber war verschwunden, was sie manchmal geradezu vermisste. Dabei war er immer freundlich zu ihr, ja, direkt aufmerksam, und oft ertappte sie ihn dabei, wie seine Augen auf ihr lagen. Sobald sie dies merkte, war es, als würde ihr Herz zwischen zwei Spanplatten gepresst. Dann wandte sie den Blick ab und suchte sich schnellstmöglich etwas, womit sie ihre Hände beschäftigen konnte.

Manchmal sah sie ihn auch draußen sitzen, allein, in die Luft starrend, als gäbe diese ihm einen unsichtbaren Halt. Eine unüberwindbare Barriere hielt sie jedes Mal davon ab, zu ihm zu gehen. Sie merkte, wie sie ständig damit beschäftigt war, ihren Gefühlen für ihn nachzuspüren. Doch es war schwer, sich in ihrem Gefühlslabyrinth zurechtzufinden, es war ein Gewirr aus verschlungenen Wegen, teilweise von Gestrüpp zugewachsen und von Unkraut überwuchert wie Milas Gemüsebeet hinterm Haus.

Immer noch hallte das schmerzhafte Gefühl des schmählichen Verrats in ihr nach. Sie glaubte nicht, dass sie es je vergessen konnte. Lians fanatischer Glaube an die sektenhafte Vereinigung der Scuros und das unreflektierte Nachbeten von Dogmen war zum Glück Vergangenheit und er verlor kein Wort mehr darüber. Sie hätte seine früheren Anschauungen und seinen Verrat gerne auf die Müllhalde der Geschichte geworfen und nur noch an seinen mutigen und selbstlosen Einsatz bei ihrer Befreiung gedacht, - doch sie schaffte es nicht.

Lian war komplizierter als jeder andere Junge, den sie je kennengelernt hatte. Sie hatte seine Schattenseiten schon immer gespürt und war unmittelbar und grausam damit konfrontiert worden. Auch wenn er jetzt freundlich und nett war, - es war einfach nur verdammt schwer, jedes Mal, wenn sie ihn sah, an alles, was passiert war, denken zu müssen.
*

Im Schatten des PhönixWo Geschichten leben. Entdecke jetzt