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Hallo Mister Krebs!

Dass ich dir heute schreibe, hat einen Grund. - Ich lebe noch!

Natürlich tue ich das, sonst würde ich dir diesen Brief ja nicht schreiben. Aber heute ist neben vielen anderen besonderen Tagen und Ereignissen etwas passiert, das mir einmal mehr bewusst gemacht hat, wie lange ich nun schon lebe, seit du mir begegnet bist. Wie lange ich schon an meinem Leben im Zustand „So normal wie möglich" arbeite.

Ich habe etwas getan, was ich eigentlich nicht tun soll. Ich bin Kajak gefahren. Nicht in irgendeinem Kajak und ich habe mich auch nicht paddeln lassen, ich habe selber Hand angelegt. In unserem eigenen Kajak. Heute ist der Tag, an dem ich mir damit das letzte Stück von meinem Leben zurückgeholt habe. Ich kann dir gar nicht beschreiben, was ich dabei alles empfunden habe. Die Erkenntnis selber hat mich tief berührt. Sie Karl-Peter gegenüber laut auszusprechen, hat mir die Tränen in die Augen getrieben.

Glück hat einen Namen. Für jeden einen anderen. Für mich ist es immer noch Karl-Peter.

Aber, ich bin zu schnell. Der Zeitsprung ist zu groß. Wie sollst du mir folgen können, wenn du die vergangenen dreizehneinhalb Jahre verpasst hast. Ich werde sie dir nicht in den kleinsten Details beschreiben, aber es hat Schlüsselmomente gegeben. Solche, die mich stärkten und solche, die mich schwächten.

Die größten Stärken waren dabei Karl-Peter, meine Ärzte, meine Familie, meine Freunde und Kollegen. Aber auch mein tiefer Wunsch, mein soziales Umfeld nicht zu verlieren und mein Wunsch, gemeinsam lachen zu wollen. Das hat manchen meiner Lieben eine Menge abverlangt, – mir aber auch. Und es war jeden Einsatz wert. Ich mag mein Lachen und Karl-Peter mag es auch. Er mag es, wenn es als Strahlen in meinen Augen beginnt, der Mund immer breiter wird, bis es hell und klar aus mir herausschallt. Daran haben wir auch festgehalten und wenn es einer von uns vergessen hatte, haben wir uns vor die Liste am Kühlschrank gestellt. Du erinnerst dich nicht mehr an die Liste? – Das macht nichts, ich kenne sie immer noch auswendig, aber ich habe sie auch aufbewahrt. Sie ist ein ständiges Erinnerli an eine Zeit, die wir uns nie gewünscht und trotzdem gemeinsam überstanden haben. Die Liste erinnert uns aber auch daran, welche Stärken in uns stecken, wenn wir sie am meisten benötigen. Schau sie dir ruhig noch einmal an Mister Krebs. Es war unsere Art, dir zu begegnen und im Nachhinein betrachtet, die beste, die es für uns gab.

Hallo Mister Krebs

1. Wir werden Dir so viel Raum geben wie nötig.

2. Ich werde, so oft es mir möglich sein wird, zur Arbeit gehen.

3. Wir werden jede Einladung annehmen.

4. Ich bin keine Entschuldigung für Karl-Peter.

5. Ich will trotzdem lachen.

6. Ich möchte mein soziales Umfeld nicht verlieren.

7. Ich möchte nicht, dass Du das „Alles-beherrschende-Thema" wirst.

8. Ich werde mich nicht verstecken.

9. Ich werde weiterhin Fahrrad fahren.

10. Ich werde nicht vergessen, wer und was ich bin; werde nicht vergessen, was ich mir bewahren möchte.

Als du mir begegnetest, war ich 41 Jahre alt. Zu jung um zu sterben und zu krank um zu leben. Also tat ich, was ich am besten kann. Ich betrachtete meine Optionen. Die Brust nicht entfernen zu lassen, war keine. Du hattest dich zu breit gemacht mit einem zweiten Tumor in der Nähe der Herzwand und deinem Streugut in den Lymphknoten. Sie hat nie viel gewogen, trotzdem fehlte sie mir. Nicht nur für die Psyche, auch als Gegengewicht für die verbleibende Seite. Bei Frauen, die stärker bestückt sind, als ich, kann das zu regelrechten Haltungsschäden führen. Also, egal wie - es musste ein Ersatz her. Die Frage war nicht ob. Die Frage war wann und in welcher Form. Es gab so viel zu bedenken und zu entscheiden - dagegen stand so viel Angst, wie sie kaum auszuhalten war. Aber die Angst über mein Leben bestimmen zu lassen, war keine Option. War es noch nie und das wollte ich auch jetzt nicht zulassen. Also nahm ich mein Notizbuch zur Hand, erstellte eine Liste mit Für und Wider und horchte in mich hinein. Ich wollte so viel „Frau sein" zurück haben, wie möglich. Bis zu diesem Zeitpunkt, als ich die eine Brustseite verlor, war sie nie wirklich wichtig für mich. Ich habe mich nicht in meinem „Frau sein" über dieses Organ definiert. Sie war halt einfach immer nur da, seit meiner Jugendzeit und nun nicht mehr. Ich wollte sie zurück. Wusste, dass ich das nicht haben kann. Ich konnte aber auch nicht entscheiden, was ich wollte.

Hallo Mister Krebs - Ich lebe nochWhere stories live. Discover now