21 - Otacilius

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Aventicum, Civitas Helvetiorum, vor dem Osttor der Stadtmauer, im Jahr des Konsuls suffectus Lucius Naevius Surdinus [Herbst of 30 AD]

Stille und Dunkelheit lagen über dem Land wie eine schwere Decke. Nicht ein einziger Vogelschrei störte die kühle Nacht, ein Zeichen, dass die Götter der dunklen Stunden noch regierten und Sol Indiges, der Sonnengott, noch schlummerte, um sich für die anstrengende Reise des nächsten Tages zu erholen.

Ein feiner Nieselregen durchweichte Marius' Mantel und ein eisiges Rinnsal fand seinen Weg entlang seines Schlüsselbeins und seine Brust hinunter. Er fröstelte und fuhr sich mit der Hand über die Augen, um die Spinnweben der Müdigkeit wegzuwischen. Es war noch zu dunkel, um etwas zu erkennen. Er versuchte, die Kälte zu missachten. War seine Nachricht wohl abgeliefert worden? Und würde der Mann, den er sehen wollte, zur festgesetzten Stunde hier eintreffen?

Ein leiser Seufzer entwich seinen Lippen. Ohne Sicht auf Mond und Sterne fiel es ihm schwer, die Zeit zu schätzen. Um Tagesanbruch, hatte er in seiner Nachricht verlangt. Bis zum Tagesanbruch konnte es noch lange dauern.

Marius kauerte sich hin und zog den Mantel gegen die Kälte und den Regen um sich. Der sonnige Herbstmorgen, an dem er das Lager von Vindonissa in aller Hast verließ, schien ein halbes Leben entfernt. Diesmal war er sich wohl bewusst, dass der lange Arm der kaiserlichen Gerechtigkeit ihn früher oder später erreichen und zermalmen würde. Nicht heute, aber bald. Marius hatte sich damit längst abgefunden. Einen Monat nachdem Lucius das Lager verlassen hatte und mit der Delegation des Magistrats nach Aventicum zurückgekehrt war, warf er sich des Nachts immer noch hin und her, ohne Schlaf zu finden und gemartert von den Gefühlen Hass, Schuld und Bedauern. Dann, an einem ruhigen Herbstmorgen, wachte er schweißgebadet aus einem schrecklichen Albtraum auf. Im diesem Moment wusste er, was er zu tun hatte.

Unter dem Vorwand, Vorräte bei einem zivilen Händler zu kaufen verließ er wenig später das Lager und besuchte die Siedlung außerhalb der Palisaden. Nach seiner kurzen Einkaufstour ließ er das Lager und die Legion hinter sich — ohne die Absicht, jemals zurückzukehren. Zu seiner Überraschung stellte sich seine Flucht als einfach heraus, zumindest zu Beginn. So nahe beim Hauptquartier der römischen Armee bezweifelte niemand, dass er mit einem legitimen Grund unterwegs war. Am nächsten Tag holte ihn dann das trübe Novemberwetter ein und er erlebte einige brenzlige Momente. Dauerregen hatte die Straße stellenweise in Matsch verwandelt. Aber trotz allem begünstigte das schlechte Wetter seine Reise. Weniger Reisende waren unterwegs und niemand nahm sich die Zeit, Fragen zu stellen. Zudem traf er keine anderen Legionäre.

Marius wagte trotzdem nicht, in einer mansio zu übernachten. Früher oder später würde sich die Nachricht von seiner Flucht verbreiten und nicht nur die Betreiber der Raststätten würden sich die Belohnung auf seinen Kopf verdienen wollen. Deshalb zog er es vor, die Nächte weit von den bevölkerten Orten zu verbringen, entweder in einem Wald, in einer Höhle oder einer verlassenen Scheune. Essen war weniger sein Problem, er hatte ja die Vorräte mit, die er am ersten Tag für sein contubernium eingekauft hatte. Er fragte sich, was wohl seine Kameraden von ihm dachten, nun, da er als Deserteur gesucht wurde. Aber es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden und er schob den Gedanken beiseite.

Die letzten Nächte hatte er sich in der kleinen Mühle am Bach außerhalb der Stadtmauer seiner Heimat Aventicum ein Nest eingerichtet. Er erinnerte sich an den Ort aus der Zeit, da er dort Mehl holte für die Bäckerei seines Onkels. Nun, da die Ernte längst abgeschlossen und alles Korn gemahlen und verkauft war, stand das kleine Holzhaus leer. Er fand darin Schutz vor der Kälte und dem Regen.

Der schwierigste Teil seines Plans war gewesen, eine Nachricht an den Mann zu liefern, den er treffen wollte. Zuerst hattet er geplant, einfach zu seinem Haus zu gehen und darum zu bitten. angehört zu werden. Aber nachdem er darüber geschlafen hatte, wurde ihm klar, dass er wohl sofort verhaftet würde. Stattdessen schrieb er einen Brief auf seiner Wachstafel. Er brauchte mehrere Versuche, um die richtige Wortwahl zu treffen und die Schrift leserlich und gerade zu gestalten. Als er zufrieden war, installierte er sich außerhalb des Osttors an der Straße, so, dass die Wachen ihn nicht sehen konnten. Er musste zwei Tage warten, bis er einen lokalen Handwerker erkannte, dem er vertraute und von dem er wusste, dass er ihn nicht verraten würde. Er bezahlte den Mann mit seinen letzten Münzen, um die Tafel an den Adressaten zu überbringen. Nun blieb nur zu hoffen, dass er nicht hereingelegt worden war.

Der Fluch des Raben | Wattys 2023 ShortlistWhere stories live. Discover now