9 - Defixio

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Ich blätterte durch die spröden Seiten der Zeitung bis ich die Seite 15 aufgeschlagen hatte. Und hier fand ich tatsächlich den Artikel, den ich suchte. Ritter Guillaume blickte mir über die Schulter und drang dabei deutlich in meine Komfortzone ein. „Hey, vergiss bitte nicht, dass ich es hasse, wenn Geister durch mich hindurch driften. Das fühlt sich an, als würde ich von einem Intercity-Zug überrollt."

Er schwebte etwas weiter von mir weg und zog dabei unter seinem Schnauzbart einen Schmollmund wie ein kleines Kind. „Entschuldige, meine Liebe. Ich vergesse einfach immer wieder, wie fragil ihr Lebenden doch sind. Ich möchte doch nur herausfinden, warum der Rabe dich mit so einem exquisiten Hinweis beschenkt hat."

Das war eine neue und interessante Sichtweise für mich. Versuchte ein übernatürliches Wesen, mich zum Handeln zu drängen? Warum bemühte der Rabe in diesem Fall nicht Ritter Guillaume, der sich mit der Welt nach dem Tod tausendmal besser auskannte, als ich? Nun, ich würde nicht schlauer werden, wenn ich darüber rätselte während die Zeitung mit dem mutmaßlichen Schlüssel direkt vor meiner Nase lag. Mit einem Schulterzucken begann ich zu lesen, aber ich kam nicht weiter als bis zum Leadtext, bevor Guillaume wieder näher heranrückte und sich räusperte. „Wäre es möglich das Wichtigste laut vorzulesen? Ich habe zwar schon vor Jahrzehnten gelernt, diese steifen, modernen Buchstaben zu entziffern, aber die Schrift hier ist viel zu klein für meine alten Augen."

„Oh, natürlich, kein Problem." In Guillaumes Zeit hatte es noch keine Brillen gegeben. Vielleicht sollte ich unserm Schlossgespenst eine Lesebrille schenken. Ich würde mich nach geistertauglichen Utensilien umsehen müssen. Eine Lupe vielleicht? Die Brille nützte ihm wohl wenig, wenn sie durch seine Nase und Ohren glitt. Wann wohl Guillaumes Geburtstag war?

Bevor ich mich wieder auf den Artikel konzentrieren konnte, hüpfte Mister Mortimer in meinen Schoß und verlangte mit einem Maunzen nach meiner Aufmerksamkeit. Ich rieb der Katze das Kinn. „Wenn der Rabe dachte, dieser Artikel beinhalte wichtige Informationen, schafft ihr beide es ausgezeichnet, mich vom Lesen abzuhalten."

Der Geist bedachte mich mit einem entschuldigenden Lächeln während der Kater eine Pfote leckte und sich auf den Rücken rollte, ohne meinen Einwand zu beachten. Ich kratzte seinen Bauch, unfähig über meine beiden Besucher verärgert zu sein.

„Also, last uns erst mal sehen, was hier steht. Es geht um eine archäologische Grabung in der Nähe von Avenches. Klingt irgendwie vertraut, aber ich habe sowas fast erwartet." Ich las den Rest des Leads bevor ich den Inhalt zusammenfasste. „Sieht so aus als hätten sie beim Autobahnbau in den Sümpfen in der Nähe der römischen Stadt ein Heiligtum und einen dazugehörenden Friedhof gefunden. Hier steht, die Archäologen seien überrascht gewesen über den Reichtum der bisher unbekannten Fundstelle."

Mister Mortimer schnurrte, während ich meine Hand in seinem weichen Bauchfell vergrub und den folgenden Text überflog. Der erste Abschnitt betonte die Wichtigkeit von Aventicum als Hauptort der römischen Provinz Helvetien, die Heimat des lokalen keltischen Stamms der Helvetii. Im nächsten Teil sprach der Journalist über die Methode der archäologischer Sondierungen, die vor dem Bau von Großprojekten, zum Beispiel der Autobahn oder von Bahnlinien durchgeführt wurden. Ich konnte nicht umhin, über die ausführlichen Erläuterungen zu lächeln. Der Journalismus hatte sich doch sehr verändert, in diesen drei Jahrzehnten. Die Beschreibung der Fundstelle selbst begann erst in der zweiten Spalte des Artikels. Diesen Teil las ich für meinen ektoplasmischen Kollegen laut.

Als ich eine Pause machte, um Atem zu schöpfen, räusperte sich Ritter Guillaume. „Also störten und durchwühlten diese rücksichtslosen Archäologen mehrere alte Gräber. Kein Wunder haben sie sich damit Ärger eingehandelt und rachsüchtige Geister geweckt."

„Das ist eine Möglichkeit, aber ich bin mir nicht sicher, dass es so einfach ist. Archäologen und Friedhofsgärtner öffnen die ganze Zeit alte Gräber. Wenn aus jedem ein unzufriedener Geist steigen würde, wären die Lebenden schon längst in der Minderzahl und hätten ein ernsthaftes Problem."

Der Fluch des Raben | Wattys 2023 ShortlistWhere stories live. Discover now