𝟔.𝟒 | 𝐕𝐨𝐧 𝐊𝐫𝐢𝐞𝐠 𝐮𝐧𝐝 𝐅𝐫𝐢𝐞𝐝𝐞𝐧

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Egal, das ist jetzt nicht mein Problem.

Nevena war nicht hier. Dort auf den Stufen zur Militärakademie, wo sie vorhin noch gestanden hatte, war niemand. Aus dieser leicht erhöhten Position ließ Zarja die Blicke über die Menge schweifen. Für einen Moment glaubte sie, auf einem der Dächer eine Silhouette zu sehen. Aber als Zarja ein zweites Mal hinsah, war sie verschwunden. Von Nevena fehlte weiterhin jede Spur.

Selbst, wenn sie hier irgendwo war, wie hoch standen dann die Chancen, dass Zarja sie unter all den anderen entdeckte? Hunderte Menschen füllten die Straßen Altingrads heute!

„Nevena!" Der Schrei ging im Lärm unter.
Hilflosigkeit spülte über Zarja hinweg. Gegenüber diesem riesigen Chaos vor ihr war sie absolut machtlos.

Kopfschüttelnd verscheuchte sie das beklemmende Gefühl und stürzte sich, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, ins Geschehen. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens stellte sie sich erst, als es zu spät war.

Je tiefer sie ins Gedränge kam, herumgestoßen wurde, wie ein hilfloses Blatt im Wind, desto mehr bereute sie ihre Entscheidung. Irgendwo am Rande ihrer Wahrnehmung hörte sie einen Herzschlag trommeln. Ungewöhnlich schnell, laut – und er raste direkt auf sie zu.

Zarja wirbelte herum und sah die dampfenden Nüstern eines verängstigt wiehernden Pferdes.
Erschrocken sprang sie zur Seite und stieß dabei gegen eine unnachgiebige Wand aus Leibern.
Der Hengst trabte nur Zentimeter an ihrem Körper vorbei und schlug eine Schneise in die Menge.

 Einige konnten ausweichen, die anderen stieß er zu Boden. Einen Verletzten, der nicht aufstehen konnte, traf der Huf am Kopf. Das widerliche Knacken, das es hinterließ, ging durch Mark und Bein. Zarja musste nicht hinhören, um zu wissen, dass das Herz des Mannes verstummt war.

Mit rasendem Puls starrte sie dem Pferd nach und streckte ihre Sinne nach ihm aus. Mit Tieren hatte sie mehr Übung als mit Menschen. Alles, was sie konnte, hatte sie erst an ihnen gelernt. An den Vögeln im Garten, den Mäusen und Ratten der Speisekammer, den Füchsen des Waldes und der Handvoll Ziegen, Hasen und Hühnern, die zum Lagerhaus gehört hatten. 

Ruhig, ruhig. Sie stellte sich vor, wie das Trommeln des großen Herzens einen langsameren Takt anschlug, bis sie es spürte.

Der Hengst zügelte seinen Galopp, doch – wohl seiner Größe geschuldet – wich man weiterhin vor ihm zurück und wahrte Abstand. Vielleicht würde sie mit ihm besser vorankommen? Sie musste nur verhindern, dass er scheute.

Zarja folgte ihm, die schmale Gasse, die entstanden war, nutzend, bevor sie sich endgültig wieder durch umherirrende Menschen schloss. Vorsichtig näherte sie sich dem Tier, dessen Puls sie streng unter Kontrolle hielt, und wagte es, als es nicht mehr zurückwich, sondern sie lediglich kritisch beäugte, ihre Hand auf seinen Kopf zu legen.

„Ruhig, mein Hübscher."
Das Pferd ließ es zu. Es war so ruhig, als tobe nicht direkt neben ihm der halbe Weltuntergang.
Hübsch, das war er tatsächlich. Sie verstand nichts auf Pferdezucht, aber in ihren Augen konnte ein derart elegant gebautes Tier nur wertvoll sein. Sein weiches Fell war von einem schneeweiß, nur hier und da durchzogen von einem hellen Rotbraun als wäre es aus Marmor.

Nun also zum nächsten Schritt. Zarja schwang sich auf den starken Rücken, wie sie es bei Jaromir gelernt hatte. Früher hatte er sie erst auf die Rennbahn mitgenommen, denn er hatte auch seine Finger im Buchmachergeschäft, später zu seinen eigenen Pferden.

„Jeder sollte reiten können", hatte er schlicht erklärt, was bedeutete, dass sein Schatten es erst recht beherrschen musste. Es war neben dem Umgang mit Waffen und Kampfkunst Teil ihrer allgemeinen Schulung gewesen. Ohne all das landeten Schutzgeldeintreiber Jaromirs vermutlich in der nächsten finsteren Nacht mit eingeschlagenem Schädel in der Chernitsa, um eines morgens aufgeweicht wieder rausgezogen zu werden.

Slaves of WarWhere stories live. Discover now