Kinder

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Sie biss sich auf die Lippen, hielt sie mit aller Kraft aufeinandergepresst, während sich ihre Fingernägel in ihre eigenen Handflächen gruben. Und trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihrem trockenen Hals mit dem schier unendlich großen Kloß schließlich ein leises Wimmern, kaum ein richtiges Schluchzen entfuhr, dass sich die Tränen in ihren Augen sammelten, bis sie einfach überliefen, wie es der schwarze See an besonders heftigen Regentagen hin und wieder tat.

Es war vollbracht. Natürlich würde es sie alle noch ein ganzes Stück Arbeit kosten und es würde ein langer, langer Weg sein, bis Hogwarts wieder hergestellt sein würde, aber für den Moment hatten sie es wohl oder übel geschafft. Nicht nur, dass sie gesiegt hatten, dass Harry Potter doch nicht tot war und Voldemort besiegt hatte, dass seine Todesser geflohen waren, dass seine grausame Herrschaft endlich vorbei war - sie hatten auch die Trümmer beseitigt, alle Leichen geborgen, die gröbsten Spuren der Verwüstung entfernt. Keine Blutflecken zierten mehr die Wände der Korridore, nirgendwo mehr war der Überrest einer dieser Spinnen oder Trolle zu finden. Alle Feuer waren gelöscht, die Treppen wieder begehbar, die große Halle und die Wege zu den Schlafsäalen freigeräumt. Es gab immer noch Trümmer, eingestürtze Gänge und Dächer, zerstörte Treppen - allen voran wohl die zersprengte Außenfassade im dritten Stock, deren Zerstörung durch einen Fluch verursacht worden war, den selbst Filius noch nicht hatte identifizieren können - aber für den Moment waren all jene, die zurückgeblieben waren in ihren Betten, die allermeisten Schüler zu ihren Familien gefahren und selbst die Ordensmitglieder für den Tag heim gekehrt.

Trotzdem blieb dort dieses erdrückende, erstickende Gefühl zurück und nachdem sie den gesamten Tag funktioniert hatte, um den Wiederaufbau ihrer geliebten Schule Willen, so hatte es sie, da sie selbst in ihre Räumlichkeiten zurückgekehrt war, nun doch eingeholt.

Und schließlich begriff sie, warum sich alles so scheußlich anfühlte, warum es im Schloss so drückend kalt geworden war, warum ihr nun die Tränen über die Wangen liefen. Denn Hogwarts hatte seine Magie verloren. Die Schule, die für so unglaublich viele junge Hexen und Zauberer zu einem unbedingten Zuhause geworden war, die stets für Geborgenheit stand und selbst den einsamen und verlassenen doch immer noch ein Lächeln entlockt hatte, hatte ihr ganz eigenes Gefühl verloren. In dieser Nacht war die bedingungslose Sicherheit, die das Gefühl der Zuversicht und die Hoffnung, es würde am Ende doch sowieso alles gut werden, die das Schloss über all diese hunderte von Jahren seiner Beständigkeit innegehabt hatte, zerschlagen worden. Das unberührte Heimatsgefühl hatte die Mauern verlassen in dem Moment, in dem die Kinder selbst dafür hatten kämpfen müssen, dafür gestorben waren. Denn Hogwarts hatte ihnen nicht lange genug diese Sicherheit gewähren können, seine Magie hatte nicht verhindern können, dass dort in der großen Halle nun fünfzig Leichen lagen. Dort lagen leblose Ordensmitglieder, Freunde und Gefährten, die ihnen, ohne auch nur für den Bruchteil einer Sekunde darüber nachzudenken, zur Hilfe geeilt waren und für ihren Heldenmut mit ihrem Leben hatten bezahlen müssen. Doch dort lagen auch Kinder, unschuldige Kinder die gestorben waren bei dem Versuch, ihr Zuhause zu verteidigen und das letzte bisschen unberührte Magie zu bewahren, dass in der Schreckensherrschaft Voldemorts noch existiert hatte.

Und das brach sie.

Denn sie waren noch Kinder gewesen, auch die Volljährigen unter ihnen, die Siebtklässler, die sich entschieden hatten, im Schloss zu bleiben und zu kämpfen. Es waren Kinder gewesen, die noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hätten. Es waren Kinder gewesen, denen sie normalerweise dabei zugesehen hätte, wie sie von Elfjährigen mit leuchtenden Augen und strahlenden Lächeln zu erwachsenen Hexen und Zauberern herangewachsen wären, zu Hexen und Zauberern, die alle ihre eigenen Talente entdeckt hatten, um nun ihre ganz eigenen, unabhängigen Leben in der chaotischen und wortwörtlich magischen Welt der Zauberei zu führen. Aber das hatte sie nicht getan, das war nicht passiert. Sie hatte zugesehen, wie sie zu Kämpfern wurden, zu verbissenen Kämpfern die ihr Schloss Hogwarts auf eine Art und Weise verteidigen mussten, wie es keiner seiner Schüler je hätte tun müssen dürfen.

Und die meisten von ihnen waren noch hier. Obwohl der Anblick der vielen, vielen Toten in der großen Halle und das Erkennen der Gesichter, die nur Stunden zuvor auf den Bänken ihres Klassenraums gesessen hatten, ihr den Boden unter den Füßen weggerissen hatte - der Gedanke an all die Überlebenden war der, der sie länger beschäftigte. Denn auch das waren Kinder, die diese Erlebnisse nicht mehr vergessen können würden, bis an ihr Lebensende. Ihr gesamtes Leben lang, was nun hoffentlich, hoffentlich ein natürliches Ende finden würde, würden diese Kinder die Ereignisse dieser einen, schicksalhaften Nacht mit sich herumtragen, würden lernen müssen, mit einer Last zu leben, deren Überdenken bereits ihr selbst den Hals zuschnürte, für einen Moment schlichtweg die Luft zum Atmen nahm. Sie hatten diese kindliche Unschuld, die Freiheit des bloßen Kindseins verloren mit der Nacht, in der sie ihre verletzten, ihre teils toten Freunde durch die Korridore der Schule gezogen hatten, die zuvor der Inbegriff bedingungsloser Sicherheit und Geborgenheit gewesen war. Sie hatten sie verloren, als Wände über ihnen zusammengebrochen waren, als sie inmitten ihres Zuhauses um ihr Leben gerannt waren, die Zauberstäbe fest an die Brust gepresst, das Getöse der Schlacht in den Ohren.

Sie hatten sie verloren, genau wie Hogwarts seine Magie verloren hatte.
Und bei Merlins Bart, sie wusste nicht, ob diese Magie jemals wieder zurückkehren würde an den Ort, an dem sich binnen weniger Stunden so viel Leid zugetragen hatte, wie überhaupt denkbar.
Nein, sollte sie ganz ehrlich sein, so hatte sie Angst. Angst, dass sich Hogwarts von nun an für immer so kalt anfühlen würde, dass dieses ganz bestimmte Gefühl, für dass sie nach ihrer eigenen Schulzeit zurückgekehrt war und es seitdem keine einzige Sekunde lang bereut hatte, nie wieder zurückkommen würde. Und so gerade sie heute auch dagestanden hatte, so sehr sie der unveränderliche, unkaputtbare Anlaufpunkt für so viele gewesen war, nach dieser Schlacht, die sie alle so viel gekostet hatte, so gut sie auch einfach nur funktioniert hatte, mit dem Wissen, dass andere genau das gerade brauchten - tief in ihrem Inneren war da einfach nur endlose Ungewissheit, wenn sie an die Zukunft dachte. Kein Anhaltspunkt, kein Ansatz, wie es weitergehen würde. Gähnende Leere - ganz ähnlich dem, was sie nach Albus Tod gefühlt hatte, ganz allein in dem kreisrunden Raum, der fortan ihr gehören sollte, ohne jemanden, der ihr sagte was nun richtig oder falsch war.

Und hätte sich an diesem Abend, dem Abend des Tages nach der großen Schlacht, dem Abend des 2. Mai 1998 tiefer in das zerstörte Schloss Hogwarts gewagt, so hätte dieser Jemand Professor Minerva McGonagall weinend in ihrem Büro vorgefunden. In ihrem eigenen, alten Büro, nicht im Raum des Schulleiters, der ihr jetzt, zum zweiten Mal in viel zu kurzer Zeit rechtmäßig zustand. Die wenigen Male, an denen sie innerhalb dieser Mauern wirklich Tränen vergossen hatte, ließen sich vermutlich an einer Hand abzählen, und doch saß sie nun hier, auf ihrem alten, hölzernen Schreibtischstuhl mit dem schottenkarierten Polster und weinte um die Toten, die Überlebenden und, wohl am allermeisten um die Tatsache, dass sie doch eigentlich alle noch Kinder waren.

Kinder || OneshotWo Geschichten leben. Entdecke jetzt