Sein Blick ging über die Hügel in die Ferne, als schweife er in eine andere Zeit, und ein seltsam wehmütiger Zug flog über sein Gesicht, den sie nicht ganz einordnen konnte. Dann aber schüttelte er den Kopf, als müsse er eine unangenehme Erinnerung abschütteln.

„Das zu sagen, war jetzt wirklich ungehörig", knurrte er. „Und nebenbei gesagt auch dumm. Es gibt sehr intelligente Leute, die nie studieren. Und sehr dumme Leute, die studieren." Er schaute sie an, mit einem Blick, der brennend scharf und durchdringend wie ein Laserstrahl war, und doch gleichzeitig so lichtlos wie die schwärzeste Nacht.

„Das habe ich nicht gemeint", sagte sie, beinahe erschrocken über seine Reaktion. „Ich finde nur, dass ich ein Recht auf Privatsphäre habe."

„Das hast du, das hast du ...", brummte er. „Wir werden uns arrangieren müssen. Manche Fragen werde ich dir aber stellen müssen."

„Und ich werde auf manche antworten." Sie würde auf ihrer Freiheit und ihrer Privatsphäre beharren, egal was er wollte!

Er stieß ein Grunzen aus.

Und dabei hatten sie es belassen.
*

In den nächsten Tagen überwachte Albiel immer noch jeden ihrer Schritte, und immerwährend hatte sie das unangenehme Gefühl seiner Präsenz. Doch wenigstens war nicht mehr die Rede davon, dass er ihr Lian verbieten würde.

Sie fand es übertrieben, wie ihr Bodyguard beinahe jeden Tag seine Bekleidung und sein Aussehen änderte. Sie vermutete dahinter ein unverhältnismäßiges Geltungsbedürfnis. Aber Simeon hatte sie ja schon vorgewarnt. Wie hatte er gesagt? Er würde gerne in Rollen schlüpfen? Das machte er, in der Tat. Albiels Umtriebigkeit war nicht nur exzessiv, sondern schon beinahe kreativ zu nennen. An manchen Tagen hatte sie Mühe, ihn überhaupt hinter sich zu entdecken, weil seine Verkleidung jeweils unterschiedlich ausfiel. Er wechselte Bärte wie andere ihre Krawatten und schlüpfte jeden Tag in eine neue Rolle. Manchmal änderte er sein Outfit mehrmals täglich. Er variierte zwischen den unterschiedlichsten Berufsständen und trug eine Zimmermannskluft mit derselben Gelassenheit wie Anzug und Krawatte eines Geschäftsmanns, mal war er Postbote, mal Fahrradkurier, mal Polizist, Pizzabote oder Putzkraft. Seine Haare waren teils glatt nach hinten gegelt, teils standen sie wie bei einem verrückten Professor wild nach allen Seiten ab, mal trug er einen Mittelscheitel, mal gar keinen. Eine amerikanische Schildmütze folgte auf eine Baseballkappe, eine Schirmmütze auf ein Truckercap, die französische Baskenmütze löste den leichten Panama-Strohhut ab und der breitkrempige Filzhut den eleganten Ausgehhut mit dazugehörigem Hutband. Er musste ein beachtliches Budget für Kleidung ausgegeben haben, kannte wahrscheinlich alle Herrenausstatter und Berufsfachgeschäfte der Stadt und hatte offensichtlich eine ganze Kollektion an Sonnenbrillen, Kontaktlinsen und Schirmen. Sie staunte immer wieder über seine Verwandlung und musste sich manchmal eingestehen, dass sie schon auf den nächsten Tag gespannt war und beinahe Spaß daran hatte, ihn in der allgemeinen Betriebsamkeit in der Stadt zu entdecken. Manchmal sah sie ihn gar nicht. Da hatte er sich wahrscheinlich als Säule verkleidet, als Türsteher vor einem Hotel oder als Mülltonne.

Er hatte sich ihren Wochenplan geben lassen, kannte ihre Seminarzeiten, betrat jedoch nie den Hörsaal mit ihr. Sie war froh darüber. Es hatte etwas Befreiendes, wenn sie ihrer Banknachbarin etwas zuflüstern konnte, ohne sich von ihm beobachtet zu fühlen. Denn dass seine Alarmglocken äußerst leicht angingen, wusste sie mittlerweile.

Nach den Vorlesungen wartete er meist in der Nähe des Ausgangs, um sich dann ungesehen an ihre Fersen zu heften.

So wurde die Uni zu einem ihrer Lieblingsorte, weil er sie dort in Frieden ließ. Während der Vorlesungen schweiften ihre Gedanken immer wieder zu Lian und sie musste daran denken, dass er vielleicht gerade gar nicht weit von ihr entfernt in einem anderen Hörsaal saß, in Fallanalysen die Anwendung von Gesetzen übte und sich Vorträge über Schuldrecht, Familien- oder Erbrecht anhörte. Sie fand nicht wirklich, dass Jura zu Lian passte. Klar hatte er das das nötige Selbstbewusstsein dafür und sie konnte sich auch gut vorstellen, wie er sich in einen Fall verbiss und dickköpfig sein Ziel verfolgte. Aber seine leidenschaftliche, impulsive Art passte nicht zu nüchternen, sachlichen Juratexten und er schien das Ungeplante, Spontane mehr zu lieben als die analytische, besonnene Vorgehensweise der Jurisprudenz. Sie wollte ihn einmal fragen, warum er gerade dieses Studium ausgesucht hatte. Vielleicht gab es ja einen Grund dafür?

Im Schatten des PhönixWhere stories live. Discover now