„Wenn du Simeon Romano irgendwann mal wiedersiehst, kannst du ihn ja nach der Karte befragen", meinte Joella achselzuckend. „Oder weiß dein Bodyguard darüber vielleicht auch Bescheid? Warum hat er eigentlich in den Weinbergen auf dich gewartet? Hatte er einen Auftrag für dich?" Schwungvoll lief sie um die Kurve des schmalen, gepflasterten Weges an einem blühenden Rhododendron vorbei und Kira musste schauen, dass sie sich ihrem Tempo anpasste, wenn sie nicht nass werden wollte.

Sie schnaubte. „Er hat mich einzig und allein abgepasst, um mir diesen ominösen Ablageort für Nachrichten mitzuteilen. Nur deshalb wollte er mich treffen. Er weiß sicher nichts von alten Postkarten im Büro seines Chefs."

„Und er wollte dich nach deinem Vogel befragen", grinste Joella. „Den darfst du nicht vergessen."

Kira warf ihr einen gespielt grimmigen Blick zu. „Ich habe keinen Vogel – falls du das hier andeuten willst. Und erstens ist es nicht mein Vogel, zweitens ist der Phönix Vergangenheit. Du kannst also nicht im Präsens von ihm sprechen!"

Die Tropfen fielen immer fester und innerhalb kürzester Zeit glänzte das Kopfsteinpflaster des weiten Platzes vor der Bibliothek vor Nässe. Joella zog ihren weiß-schwarz gepunkteten Schirm hervor und die zwei Mädchen beeilten sich, unter den viel zu kleinen Schirm gedrängt, dem herannahenden Platzregen zu entkommen.

Schalk blitzte in Joellas Augen auf. „Lässt das dein Archäologenherz nicht höher schlagen? Ein versteinertes Ei, aus dem ein Vogel schlüpft, also sozusagen eine wiederbelebte ausgestorbene Tierart! Ein wiederauferstandener Vogel! Das ist doch einfach nur krass!" Strahlend sah sie Kira an, sichtlich begeistert und absolut unbeeindruckt vom bevorstehenden Unwetter. In der Ferne hörte man es donnern.

„Du scherst gerade Paläontologie und Archäologie über einen Kamm, aber sonst ... Ja, irgendwie krass ist es schon." Verdrossen sah Kira ihre Freundin an. „Nur mag ich Vögel nicht sonderlich, das weißt du."

„Es hat aber wirklich etwas Symbolhaftes, finde ich. Ein Ei, das Zeichen für schlummerndes Leben."

„Ja, ja", lachte Kira. „Jetzt hör schon auf, deine Gehirnakrobatik hilft mir auch nicht weiter. Überleg mal lieber, wie ich meinen Bodyguard loswerde!"

Der Regen prasselte auf den Schirm und bei jedem Schritt spritzte das Wasser nach allen Seiten.

„Meine Socken sind schon nass, heute ist mein Lieblingstag." Genervt packte Kira ihre Tasche fester und beschleunigte ihre Schritte.

„Ach, Kira, du bist immer so furchtbar pragmatisch!"

„Bei nassen Socken ist jeder pragmatisch!"

Sie beeilten sich, den Fußweg zu erreichen, der sich am Rand des Bibliotheksgebäudes nach oben bis zum Eingang schraubte. Das große, zweistöckige Gebäude aus Glas und Stahl mit dem extravaganten, verschachtelten Dach war hell erleuchtet. Durch die große Glasfront drang helles, warmgelbes Licht, das dem bedrohlich dunklen Himmel zu trotzen schien. Es sah es aus, als würde ein futuristisches Riesentier mit geschupptem Panzer der Dunkelheit den Kampf ansagen.

„Du findest das vielleicht alles spannend, - ich hingegen stecke in der Klemme!"

Ihre Lage war beschissen. Sie hasste Vögel. Aber nur, wenn sie es schaffte, den Vogel zu finden, hätte sie ihren verdammten Personenschutz los. Sie seufzte. „Albiel wartet auf den Phönix wie ein kleines Kind auf Weihnachten. Und erst wenn Weihnachten wird er verschwinden, das ist das Problem", erklärte sie ihrer Freundin. Sie gab ein genervtes Schnauben von sich und sah sich um.

„Es ist nervtötend, einen Bodyguard zu haben! Ich fühle mich verfolgt, verstehst du? Siehst du, wie er gerade am Fahrradständer so tut, als würde er alles kontrollieren? Mit der Schiebermütze und dem karierten Hemd, als sei er der Hausmeister? Mich würde es ja echt interessieren, wie es bei ihm zu Hause aussieht. Er muss schränkeweise Verkleidungen haben! Und Utensilien wie Bärte, Brillen und Mützen! Mann, Joella, ich hab' es wirklich satt, keinen Schritt mehr ohne ihn tun zu können!"

Im Schatten des PhönixOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz