Mein Leben in Scherben

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(Schreibwettbewerb von @BlackShadow_753
Thema 3: Beginne und beende dein Werk mit dem gleichen Satz. Der Satz soll aber am Ende eine andere Bedeutung haben als zu Beginn [bzw. die Perspektive auf diesen Satz soll verändert werden]
Wörter:1808)

⚠️Kurzgeschichte behandelt teilweise Themen wie Suizid und Depressionen⚠️

Ich bin so froh, dass mein Leben zerstört wurde.
Ich weiß, dass klingt völlig verrückt, aber lass es mich erklären.

Einen Monat nach dem Unfall sitze ich, Kopf auf meinen Armen, am Küchentisch. Meine Augenlider sind schwer und träge. Am liebsten würde ich einfach nur schlafen. Schlafen und nicht mehr aufwachen. Aber der ständige stromartige Schock der durch meinen Körper fährt, erlaubt es mir nicht auch nur für eine Sekunde zu ruhen.
Unzählige Medikamente jagen durch mein Blut. Einige machen mich müde, manche halten mich wach und andere versuchen mich davon abzuhalten, ein Messer zu nehmen und einfach alles zu beenden.
Wie dicker, schlieriger Nebel hängt mein Verstand vor mir, nah genug um ihn zu greifen, aber meine Hand bewegt sich kein Stück. Immer weiter entfernt sich der letzte Gedanke von mir und nur noch Taubheit und der bittere Geruch des Todes umringt mich.
„Hey." eine warme Hand legt sich auf meine Schulter. Sie ist wie ein Seil, das jemand von der Klippe wirft um mich hochzuziehen. Nur dass ich es durch den Nebel nicht sehen kann. Nur ein dumpfes, gleichmäßiges Atmen ist zu hören. Und es kommt nicht von mir.
„Brauchst du eine Schlaftablette?" Vergeblich versuche ich, die Stimme zu erkennen. Durch den Schleier meiner Wimpern erkenne ich eine verschwommene Silhouette die sich von der Dunkelheit abhebt.
Endlich scheint die Gestalt Form anzunehmen.
Augen, eine Nase und ein Mund, lange blonde Haare, die sich in langen Wellen um ihr Gesicht winden.
Meine Mutter.
Sie lächelt mich an, versucht mir Kraft zu geben mit ihrem Lachen. Oder stelle ich mir das nur vor?
Aber an diesen Tagen gibt mir nichts mehr Kraft.
Jeder Schritt, jeder Atemzug saugt ein bisschen mehr Leben aus mir.
„Darf ich nicht.", höre ich mich selbst sagen, „die vertragen sich nicht mit dem Morphin." Eigentlich wusste meine Mutter das auch.
Ich wurde abgelenkt durch den drückenden Schmerz in meinen Beinen. Wie Schockwellen verbreitet er sich in meinem ganzen Unterkörper. Er reißt und zerrt an jedem Stück von mir, das er kriegen kann. Wieder kneife ich meine Augen vor Schmerz zusammen, ich halte den Atem an, in der Hoffnung es würde den Schmerz lindern.
Doch nichts half. Keine Tabletten, keine Beruhigungsmittel, kein Schlaf. Der Schmerz blieb und jagte mich immer weiter an den Rand der Verzweiflung.

Doch wie ist es zu all dem gekommen?

„Ich bin so aufgeregt!" Es stimmte. Die Freude schoss wie Feuerwerke durch meinen Körper, fast wäre ich hoch in die Luft gesprungen.
Die Tränen standen mir in den Augen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Endlich, ENDLICH, hatte ich es geschafft. Jahre harter Arbeit, nie hatte ich aufgegeben für meinen Traum zu kämpfen. Schon in einigen Monaten würde meine Zeit an der Ballettschule starten.
Alle Prüfungen und Aufnahmegespräche lagen weit hinter mir. Nichts konnte jetzt noch schief gehen.
„Nicht so laut, Noah! Was sollen die Nachbarn denn denken?" Besorgt schaute meine Mutter sich um, ob zufällig gerade jemand aus seinem Fenster schaute.
Diese Worte verletzten mich. Meine Eltern waren nicht zufrieden mit dem Gedanken, dass ihr einziger Sohn an eine Ballettschule gehen würde. Aber um ehrlich zu sein, waren sie noch nie mit irgendwas zufrieden gewesen, was mich betraf. Immer gab es etwas, an dem sie sich auslassen mussten, etwas, was ich falsch gemacht hatte. Am schlimmsten war aber mein Vater. Ein Fehler, ein Schritt in die falsche Richtung und ich wurde für die nächsten Tage nur noch angeschrien.
Sofort verstummte ich.
Meine Freude vor meinen Eltern zu zeigen, war keine gute Idee gewesen, aber nachdem ich den Brief heute morgen bekommen hatte, konnte ich einfach nicht anders. So oft war ich am Rand der Verzweiflung gewesen, so oft war ich abgelehnt worden und jetzt, als ich es endlich geschafft hatte bekam ich nichts mehr als die übliche Ignoranz zu spüren.
Ja, es tat weh. Sehr sogar. Aber ich war nichts anderes gewohnt. Für meine Eltern war ich ein Dorn im Auge, ein farbiger Fleck auf einer weißen Wand, ein Fehler, eine Enttäuschung. Nichts was ich tat hatte irgendeinen Wert und alles was ich dachte und sagte war falsch.
In meinem Leben gab es keine Anerkennung. Es gab Regeln an die es sich zu halten gab, es gab Verbote, beschuldigende Blicke und Strafen. Das war alles was ich kannte. Das Konzept der Zuneigung und des Lobs war mir fremd.
Deswegen ist es auch passiert.
Ohne mir einen Blick zu würdigen, setzten sich meine Eltern in mein Auto. Meine Mutter auf die Rückbank, mein Vater auf den Beifahrersitz. Tief atmete ich ein, bevor ich die Tür öffnete und mich hinters Steuer setzte. Meine Freude war bereits abgeebbt und mein Fokus lag wieder auf dem bevorstehenden Ereignis: Der Besuch bei meinem Onkel.
Ich korrigiere: Der Besuch bei dem schrecklichsten Wesen dieses Universums. Also praktisch das Selbe. Er war ungelogen der Teufel in Person. Fettige, lange, graue Haare, eine tiefe, kratzige Stimme, die mich würgen ließ und über seinen abscheulichen Charakter könnte man eine ganze Reihe an Büchern schreiben. Nur seine Augen, blau und hell strahlend wie die Reflexion des Mondes im nächtlichen Meer hasste ich noch mehr. Denn sie sahen exakt so aus, wie meine.
Allein beim Gedanken an meinen Onkel, Aron war sein Name, fühlte ich meinen ganzen Körper in Angst und Abscheu zittern.
Ich vertrieb die unangenehmen Gedanken aus meinem Kopf, dachte wieder an die Ballettschule, schnallte mich an und drehte mit einem Lächeln auf den Lippen den Schlüssel.
Es war ein sonniger Tag, keine einzige Wolke am Himmel. Ziemlich untypisch für Anfang März. Da mein Eltern beide keinen Führerschein hatten, musste ich fahren. Das war kein Problem für mich, denn dann hatte ich wenigstens etwas auf das ich mich konzentrieren konnte.
Jedoch wusste ich nicht, dass es schon einige Augenblicke später passieren würde.
Ich pfiff eine fröhliche Melodie und tippte dazu im Rhythmus auf das Lenkrad. Den Weg kannte ich auswendig und es waren sowieso nur 20 Minuten, also machte ich mir nicht viele Sorgen.
Doch aus dem nichts fuhr meine Mutter mich an: „Kannst du einfach mal für einen Moment leise sein?" Genervt wandte sie ihren Kopf ab und blickte aus dem Fenster.
Erneut verstummte ich. Da war es wieder. Dieses grässliche Gefühl, nicht geliebt zu werden, dieses Ziehen tief in meinem Inneren wenn ich wieder abgeschoben und für alles was ich tat gehasst wurde.
Deswegen ist es auch passiert.
Ein Außenstehender hätte es nicht bemerkt. Ich selbst hatte es nicht bemerkt. Es waren viele Faktoren auf einmal: Eine schmale Landstraße, meine Gedanken, die von Selbstzweifeln befallen waren, ein falscher Sonnenstrahl in meinen Augen, ein sich näherndes Auto.
In Sekundenschnelle lagen mit einem ohrenbetäubendem Krachen beide Autos und mein Leben in Scherben.

Deswegen sitze ich jetzt am Küchentisch.
Die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter. Das dumpfe Geräusch sich nähernder Schritte. Das plötzliche Gesicht meines Vaters im Türrahmen.
Auf einmal ist meine Mutter weg, ich bin alleine mit meinem Vater.
Mein Kopf ist schwer und zäh. Doch die Welt um mich herum ist jetzt nicht mehr still. Sie ist laut und schreit in allen möglichen Farben Warnungen. Wo vor sie mich warnt, ist mir jedoch ein Rätsel.
Ich versuche mich daran zu erinnern, was mir gesagt wurde. Es sei wichtig, ist alles was mir noch einfällt. Der Nebel in mir frustriert mich. Keine klaren Gedanken lassen sich formen.
Doch mein Vater durchkämmt den dicken Nebel mit seiner Stimme wie mit einem scharfen Messer:
„Mach schon, du Schwein! Stell dich nicht so an und sieh zu, dass du zur Arbeit kommst." schnauzt er mich an. Ich erstarre. Arbeit. Natürlich, mit paralysierten Beinen konnte man ja schlecht Ballett tanzen.
Ich will nicht, Vater. Ich will einfach nur hier bleiben. Warum verstehst du das nicht?
Aber ich traue mich nicht, meine Gedanken auszusprechen. Ich hasse meinen Vater dafür, dass er mich in meinem Leben nur emotionalen so wie psychischen Stress hat spüren lassen. Aber trotzdem liebe ich ihn. Er war immerhin mein Vater.
Und doch war er nie zufrieden:
„Andere haben es viel schlimmer, du solltest glücklich sein, noch zu leben." Da war es wieder, seine stärkste Waffe gegen mich: Schuldgefühle. Er ließ mich denken, alles wäre meine Schuld, ich sei nicht dankbar genug, ich solle mich nicht beschweren. Aber mein Leben war zerstört. Alles was einmal werden konnte war jetzt im Bereich der Unmöglichkeit. Tanzen, einen gewöhnlichen Job machen, laufen.
Ich saß in einem Rollstuhl, wurde nur noch gehalten durch ein Metallgestell, denn meine Beine waren für nichts mehr zu gebrauchen.
Mein Vater lag falsch. Ich stellte mich nicht an, ich hatte das Recht aufzugeben, ich durfte trauern.
Mein Leben lag in tausenden Scherben und ich durfte die nächsten Jahre damit verbringen es wieder zusammenzusetzen oder damit zu leben, dass ich jedes Mal auf Scherben trat, wenn ich weiter wollte.
Er wusste nicht, wie es sich anfühlte alles zu haben aber doch nichts. Ich hatte mein ganzes Leben vor mir, aber keine Möglichkeit es in vollsten Zügen zu leben.
Ich richte meinen Blick auf das Gesicht meines Vaters. „Ich werde mich nicht länger von dir herumschubsen lassen, ich werde nicht länger Sklave deiner missglückten Emotionen sein!"
Doch mein Vater ist nicht mehr da. Die Küche ist nicht mehr da. Alles um mich herum verschwindet und verschwimmt. Es ist alles weg.
Die hellgelben Wände unserer Küche werden ersetzt durch schneeweiße, Der Tisch an dem ich saß ist aus hellem Birkenholz und vor mir steht eine Krankenschwester. Ihre dunkelgrünen Augen werfen mir besorgte Blicke zu.
„Hast du wieder geträumt, Noah?" ich brauche einen Moment um zu verstehen. Schon wieder war ich in Halluzinationen versunken.
Ich bin im Krankenhaus. Vor mir steht Tara. Sie ist die, die mir gesagt hatte, es sein nicht meine Schuld. Sie ist die, die mir sagte ich solle sie loslassen.
Sie hatte gesagt, es wäre besser so, ich könnte endlich atmen.
Meine Eltern sind tot. Gestorben in dem Unfall, an dem ich nicht Schuld war. So sagte es Tara zumindest. Doch es half nicht. Natürlich nicht. Warum soll ich mich nicht verantwortlich fühlen?
Ich saß am Steuer, ich baute den Unfall und meine Eltern starben. Jeden Tag sage ich mir genau das und jeden Tag weiß ich aufs Neue, dass ich eine Enttäuschung war, dass ich meine Eltern getötet hatte.
Doch auch begreife ich, dass meine Eltern mich nicht geliebt hatten, dass wenn sie den Unfall überlebt hätten, sie mich weder bemitleidet, noch unterstützt hätten. Denn das hatten sie nie.

Ich bin nicht froh, dass meine Eltern tot sind. Ganz und gar nicht, ich vermisse sie. Aber ich bin froh, dass ich endlich realisieren konnte, dass sie mir geschadet hatten, dass sie mich zerstörten. Und dass es nicht meine Schuld war. Das war es nie. Ich kann endlich meine Vergangenheit, meine Kindheit loslassen und versuchen mit meinem Leben weiter zu machen. Denn meine Eltern waren ein Hindernis in meinem Kopf gewesen. Immer hatten sie mich davon abgehalten, zu glauben.

Ich bin so froh, dass mein Leben zerstört wurde.

🫧Im Wind gewehte Wörter✨Tempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang