2. Kapitel - Wenn Legenden wenden

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Doch als sie die Augen vorsichtig aufschlug, fand Jolie sich nicht in ihrer wunderbar logischen, geliebten Realität vor. Sie wachte in einem noch absurderen Traum auf.

Das Taxi fuhr schwebend durch die Luft. Sie war nicht mehr in Hamburg. Sie wusste nicht, wo sie war.

Das Einzige, was Jolie wusste, war, dass das zu viel für ihren Verstand war.

"Herzlich Willkommen im Land der Fantasie. Tut mir leid, dass ich so unsanft sein musste, aber du wolltest ja nicht -"

Sie drehte den Kopf so schnell, dass ihr Hals wehtat.

Der Teppich redete.

Jolie starrte ihn mit blankem Entsetzen an. Dann presste sie sich die Hände auf die Ohren. "Ich träume", stellte sie fest. "Oder nein - ich bin tot. Ich bin gestorben? Ich wurde von einem Irren gekidnappt und ermordet und jetzt bin ich tot!", begann sie zu hyperventilieren.

Die Fransen des Teppichs hatten einen Mund geformt, der sich bewegte, doch sie hörte ihn nicht. Sie war gestorben - aber sie war doch noch nicht einmal achtzehn! Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt! Sie hatte geplant die Welt zu sehen, ihren Traummann mit vierundzwanzig zu heiraten und drei Kinder zu bekommen! Eine Karriere als Mathematikprofessorin. Sie wollte zwei Hamster kaufen, einen Pi und einen Epsilon nennen, und einen Hund namens Pythagoras. Sie wollte ihre Rente damit verbringen, ihren Enkeln Geschichten zu erzählen - nicht solche unsinnigen wie ihre Oma erzählt hatte, sondern über das echte Leben. Ihr Herz zog sich zusammen.

Ihre geliebte Oma war tot.

Und sie jetzt auch.

Deshalb halluzinierte sie. Teppiche konnten einen nicht an den Schultern packen und nicht schütteln. Taxis flogen nicht. Die Welt bestand nicht aus fliegenden, leuchtend bunten Städten auf fliegenden Walen, die durch die Luft schwebten wie schimmernde Seifenblasen. Es gab auch keine Städte auf den Rücken von Kamelen, auf Elefanten mit Beinen so lang wie Stelzen, und keine Städte, die kopfüber standen.

Es gab Schwerkraft, es gab Struktur und es gab Gesetze.

Die Welt verschwamm vor Jolies Augen. "Ich bin tot", schluchzte sie und die Realisation traf sie.

Dann trafen Teppichfransen sie im Gesicht und holten sie schlagartig zurück in die Nicht-Realität.

"Au! Spinnst du?"

"Tut mir leid!", klagte der Teppich verzweifelt und Jolie kam nicht damit klar, wie sich sein Mund bewegte. "Aber du hörst mir nicht zu. Du bist nicht tot - du bist im Land der Fantasie!"

Jolie blinzelte. "Du bist verrückt - nein, ich bin verrückt", stellte sie dann fest und zerrte an ihrem Gurt.

"Warte - was hast du vor?"

Es war, als hätte jemand einen Schalter in ihr umgelegt. "Aussteigen", sagte sie trocken und rüttelte am Griff. Flog das Taxi noch? Ja. Wäre es dumm auszusteigen? Ja.

War es Jolie egal? Definitiv.

Alles war besser als mit einem durchgeknallten, sprechenden Teppich in einem fliegenden Taxi zu sitzen.

"Entweder du steuerst sofort runter und lässt mich raus oder ich steige hier aus."

"Aber wir sind noch nicht da! Wir fliegen noch!"

"Ist mir egal." Jolie zog den Gurt lang und hielt ihn wie einen Hammer neben die Fensterscheibe. Sie hob trotzig das Kinn. "Ich steige aus, so oder so."

Der Teppich schlängelte sich über den Sitz. "Warte doch, bis wir bei deiner Stadt sind."

"Nein", sagte Jolie. "Und ich habe keine Stadt, ich bin doch kein Bürgermeister."

"Jeder von euch Menschen hat hier eine Stadt - eine Stadt der wandernden Träume. Du auch", versuchte der Teppich zu erklären, doch Jolie hatte andere Pläne. Als er näher schwebte, schlang sie den Gurt um ihn.

"Diese Stadt lebt- Hey!"

Ihr Vater hatte ihr einst Seemannsknoten gezeigt, die fest waren und erstaunlich schnell gingen. Jolie grinste, als sie ihr verknäultes Werk betrachtete und wickelte sicherheitshalber noch einen anderen Gurt drum. "So gefällst du mir schon besser."

Dann zog sie sich zwischen den Sitzen nach vorne und versuchte an das Lenkrad zu gelangen. Die wenigen Fahrstunden, die sie bereits gehabt hatte, sollten auch gelten, wenn sie tot war.

"Jolie, nein! Das Taxi fliegt selber, wenn du dazwischen greifst, wirft es dich raus!"

Sie ignorierte den zappelnden Teppich - was sich als fatale Entscheidung herausstellte.

Sobald ihre Hände das Lenkrad berührten, blinkte ein schreiend rotes Warnlicht auf dem Armaturenbrett auf. Die Autotür öffnete sich und das Taxi drehte sich seitlich. Ohne einen Sicherheitsgurt, der sie rettete, verlor Jolie den Halt und fiel mit einem entsetzten Aufschrei - und einem genauso entsetzten Ruf des Teppichs im Hintergrund - aus dem hellblauen Taxi.

Natürlich musste von allem, das hier nicht galt, ausgerechnet die Schwerkraft bei ihr einwandfrei funktionieren.

Die Stadt der wandernden TräumeWhere stories live. Discover now