Prolog

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Was wäre, wenn es einen Ort gibt, an dem alle deine kühnsten Träume Wirklichkeit sind?

"Die Bäume wiegen zart im Wind, wie Wolken aus flauschiger Zuckerwatte. Ihr farbenprächtiges Laub ist mit Zuckerperlen verziert, die leise knistern, wenn du vorbeigehst. Hörst du es? Schließ die Augen, Lili, und lausche. Atme tief ein. Riechst du sie?"

Die Siebenjährige ließ sich rückwärts auf ihr Himmelbett fallen. Sie atmete tief ein, und obwohl nur der zarte Restduft des Mittagessens - der köstliche Nudelauflauf ihrer Mama - in der Luft lag, roch sie die Bäume deutlich.

Die zauberhafte Süße der Fantasie.

"Die riechen soooo gut!"

Ihre Oma Martha lachte in einem hellen Ton der Freude und Jolie schlug die Augen wieder auf. Früher hatte sie gedacht, dass ihre Oma einfach zu alt und vergesslich war, um sich ihren Namen richtig zu merken. Mittlerweile vermutete sie, dass der Spitzname Absicht war.

Jolie rutschte näher und lehnte sich an ihre Schulter, um die traumhafte Illustration im Bilderbuch genauer zu betrachten. "In meinem Kopf war der Wald größer", überlegte sie.

"Das ist gut." Oma Marthas haselnussbraunen Augen funkelten warm. "Träum so groß du kannst, Lili, denn Träume kennen keine Grenzen." Sie tippte gegen ihre Stirn und Jolie kicherte. "Außer du begrenzt sie."

"Würde ich niemals!" Ihr Zahnlückengrinsen wurde größer. "Je mehr Zuckerwattenbäume, desto besser."

"Und was gibt es noch in deinem Wald?"

"Zuallererst leben dort die Lebkuchen-Luchse", erklärte sie gewissenhaft, obwohl ihre Oma den Wald mittlerweile kennen sollte. Wie oft hatten sie ihn gemeinsam besucht? Da sie erst in der ersten Klasse war, kannte sie noch nicht genug Zahlen, um richtig zu zählen. "Und die Kakao-Kaninchen, sie -"

Ein Hupen riss sie aus der Erzählung.
Jolie sprang irritiert auf und rannte zum Fenster. "Warum steht ein Taxi vor unserer Tür?"

Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, wie das sonst so lebensfrohe Gesicht ihrer Oma in sich zusammenfiel. "Oh", sagte sie und sah auf ihre goldene Uhr. "Ist es schon so spät?"

"Wieso? Fährst du schon? Aber du fährst immer erst nach dem Abendessen und wir haben noch nicht einmal Kuchen gegessen!"

"Heute nicht." Ihre Oma erhob sich schwerfällig und rieb sich die Brust. "Wir können nächste Woche weiterspielen. Hoffentlich." Das letzte Wort hatte sie kaum hörbar gemurmelt.

"Wohin willst du?" Jolie hüpfte zurück und umarmte ihre Oma um die Hüfte.

Diese strich ihr sanft durch das Haar. "Die Frage ist nicht, wohin ich will."

Sie blickte mit großen Augen auf. "Dann ist das das magische Taxi, dessen Legende du mir mal erzählt hast? Dass dich nicht dorthin bringt, wo du hin willst, sondern wo du hin musst?"

Ihre Oma lächelte traurig. "Gewissermaßen."

"Das ist toll!", hauchte Jolie, ohne zu merken, wie Oma Marthas Stimmung sich verändert hatte. "Wenn ich so ein Taxi hätte ..." Sie stockte, plötzlich unzufrieden. "Es würde mich vermutlich immer nur in die Schule bringen."

"Du sagst das, als wäre es kein Traum, sondern ein Albtraum. Du magst doch Zahlen, Lili."

Das Mädchen verschränkte die Arme. "Zahlen, ja ... aber der Rest ist sooo langweilig."

Ihre Oma schenkte ihr ein Lächeln - das Letzte, was Jolie von ihr sehen würde, wie ihr erst viel später bewusst wurde. "Denk daran, was wir immer sagen: Es gibt keine Langeweile -"

"- wenn du Fantasie hast!", vervollständigten sie gemeinsam und Jolie folgte ihrer Oma hüpfend die Treppe runter. Sie sah zu, wie sie ihren Schal umlegte und ihre Eltern drückte. Ihr Vater murmelte etwas von "wird schon alles gut gehen, die wissen, was sie tun" und half ihr, ihre Tasche ins Taxi zu tragen. Jolie winkte von der Haustür aus, bis das gelbe Taxi verschwand.

"Wohin sie wohl gefahren ist?", rätselte sie später, als sie keine Antwort von ihren Eltern bekam. Nur ein "keine Sorge" hatte sie gehört. Jolie stieß sich vom Tisch ab und kreiselte auf ihrem Schreibtischstuhl durch den Raum, dass ihre blonden Zöpfe flatterten. "Wenn das Taxi wirklich magisch ist und Oma drin sitzt, dann bestimmt an den schönsten Ort der Welt!" Sie stoppte neben einem Bilderrahmen, wo beide strahlend in die Kamera grinsten. Jolie lächelte. "Das hätte sie verdient."

-★-★-★-

Drei Wochen später, vollkommen in Schwarz gekleidet und neben ihrer schluchzenden Mama, wurde Jolie klar, dass das Taxi doch nicht so toll und magisch war, wie sie geglaubt hatte. Von wegen legendär.

Es hatte ihre Oma gestohlen - für immer.

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Herzlich willkommen zu meinem ONC Beitrag 2023!

Die "Stadt der wandernden Träume" entstand aus Promt 5 und einer Menge Fantasie - begleitet Jolie auf ihrer kommenden Reise ins Reich der Träume und Fantasie :)
Im Prolog konntet ihr sie schon ein wenig als Kind kennenlernen - was ist eurer erster Eindruck?

Ich freue mich über eure Kommentare und Sternchen.

Viel Spaß beim Lesen
- und bleibt so fantastisch!

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