Zeit der Wahrheit

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"Und du? Warum hattest du Angst?", stellte ich als Gegenfrage.

"Ich hatte Angst, dass ich schlussendlich doch verlieren würde...", sie strich sich mit ihrer Hand durchs Gesicht, "Ich meine - klar habe ich mitbekommen, wie du behandelt wurdest. Ehrlich gesagt ging es mir erst am Arsch vorbei... doch das änderte sich, als ich plötzlich vor einem Umschwung stand. Du hattest etwas erreicht, was ich nicht hatte erreichen können. Es war, als wäre das Brett von meinen Augen gefallen. Ich war nicht in der Lage gewesen, vernünftig studieren zu können, weil Mom und Dad mich kontrolliert hatten! Sie haben so viel von mir erwartet, dass ich meine ganze Kindheit auf einer instabilen Wippe gestanden hatte! Ich stand mit jedem Tag mehr unter Druck, sodass ich nicht mehr gut in der Schule war! Und dann hattest du auf einmal die guten Noten! Es war zu viel... Ich wurde neidisch, ihre Kommentare hatten nicht gerade geholfen! Ich wollte nicht zurückfallen-"

Wow... Damit hatte ich nicht gerechnet. Das hatte ich nie mitbekommen!

"Was für Kommentare?", hakte ich nach und sie sah auf.

"Vergleiche... Sie verglichen uns. Und schimpften über dich... Sie sagten, dass du...", sie hielt inne, "Ayuna. Du musst wissen, dass-"

Ihre Stimme blieb ihr im Halse stecken und sie blickte hilfesuchend zu Nana, die den Blick senkte. "Was Ayumi dir sagen möchte, Ayuna, ist, dass du eigentlich die Erstgeborene warst. Es gab im Krankenhaus eine Verwechslung. Deine Eltern erwähnten es nie, weil sie Angst vor den Konsequenzen hatten, die die Sekte ihnen auferlegen würde. So war Ayumi als Erstgeborene eingetragen", es war, als würde erneut eine Bombe platzen.

Ich sah die beiden entgeistert an.

Das durfte nicht wahr sein, oder? Es konnte nicht stimmen, das Schicksal-

Oh Gott.

So langsam setzten sich die Puzzleteile zusammen - ich verstehen, warum Ayumi so gehandelt hatte. Emotionen konnten Menschen so gut kontrollieren!

Langsam schwand der Hass...

Viertes Wort für Hayashi Ayuna.

"Ayu, was ist 'Verzweiflung'?", Nana blickte mir direkt in die Augen. Ich hatte meinen Mund beinahe nicht aufgekriegt.

"Verzweiflung ist, wenn man weiß, dass man so richtig tief in seinen Problemen steckt. Man hat keine Hoffnung mehr, ist nicht in der Lage, alleine etwas zu lösen. Dauerhafte Verzweiflung endet in Selbstmitleid, es kann bis zum Tod führen. Man ist gelähmt durch so viele unterschiedliche Gefühle, dass man einfach nicht weiß, wo einem der Kopf steht. Es ist eine Emotion, die nur Unglück bringen kann."

Die Karo Königin erkennt diese Erklärung an.

Ayumi legte ihre Hand über den Mund. "Deswegen hast du- Oh Gott", sie schien ebenfalls so einiges zu verstehen. Ich spürte die Verbindung, die sich langsam formte. Wenn man genau überlegte, haben wir schon immer im gleichen Boot gesessen. Nur, dass wir es nie richtig gesehen hatten.

Viertes Wort für Hayashi Ayumi.

"Ayumi. Du bist erneut an der Reihe. Was bedeutet 'bedauern'?", unsere Großmutter blickte zwischen uns her.

"Bedauern... Es ist auch ein Gefühl, ähnlich wie Verzweiflung, nur in einem anderen Sinne. Man ist tiefst bedrückt, etwas nicht getan zu haben. Es ist nicht rückgängig zu machen, man muss mit den Konsequenzen leben. Und doch ist der Gedanke immer da - das Schuldgefühl. Es wird einen nie wieder verlassen, egal, wie der Rest des Lebens auch verlaufen würde. Am Ende erinnert man sich immer wieder daran."

Die Kreuzkönigin erkennt diese Erklärung an.

Ich blickte zu meiner Schwester. Sie hielt ihren Blick gesenkt und plötzlich...

Weinte sie.

Ich war erschrocken, wusste nicht, was ich tun sollte. Sie weinte und konnte nicht mehr damit aufhören.

"Es tut mir so leid, Ayu! Ich... weiß auch nicht, was in mich gefahren war! Ich kann mir nicht vorstellen, was du durchmachen musstest... Ich kann mich nur dafür entschuldigen, was ich dir angetan habe... Ich bereue es so sehr... Ich hätte nicht auf Mom und Dad hören sollen! Glaube mir, ich wollte damals mit dir spielen! Mein Ego hatte es aber einfach nicht zugelassen! Wäre es anders gelaufen, hätten wir eine bessere Beziehung gehabt? Wäre es?", schniefte sie und ich spürte den Kloß in meinem Hals.

Und dann liefen die Tränen auch aus meinen Augen.

Das Leben war unfair. Ich bereute es, nicht ihre Sichtweise gesehen zu haben. Immer hatte ich mich über meinen Schmerz beklagt, aber nie darauf geachtet, wie es meiner Schwester ging.

Wir waren vielleicht Zwillinge, hatten aber nie eine gute Beziehung gehabt. Hätten wir mehr miteinander gesprochen, wären wir vielleicht zu zweit den Fangzähnen unserer Familie entflohen.

Ich hatte die Kraft gehabt, die sie nie gehabt hatte.

Ja, der Hass war weg. Ich hasste Ayumi nicht mehr. Aber ich konnte ihre Handlungen nicht einfach entschuldigen. Das würde ich nie können.

Aber ich war offen, es noch einmal mit ihr zu versuchen. Ich wollte endlich, dass es aufhörte. Wir sollten vernünftig miteinander reden können. Es war wichtig, dass wir endlich gegenseitig erfuhren, was uns widerfahren war.

"Es tut mir leid", dieser Satz kam uns beiden gleichzeitig von den Lippen.

The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now