Die Philosophie des Egoismus

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"Es ist faszinierend, wie sich der Mensch entwickelt hat, nicht? Wie dieses Lebewesen dem Egoismus verfallen ist", er blätterte die Seite um, während ich ihn ansah. Wo kam denn dieser Gedanke auf einmal her? Erwartete er eine Antwort?

"Der Egoismus war nur ein Nebenprodukt der Entwicklung", meinte ich, nachdem ich ein wenig über die Worte nachgedacht hatte. Er sah von seinem Buch auf, bevor er mich eingehend musterte. Anscheinend hatte ich sein Interesse mit meiner Aussage geweckt.

"Was lässt dich so denken?", Neugierde schwang in seiner Stimme mit, ein Phänomen, was nicht sehr häufig bei ihm vorkam.

"Nun... der Mensch hat sich geistig weiterentwickelt. Ganz zu Anfang war es ein schwaches Wesen, es hatte viele Feinde und lebte in Angst... Doch dann passierte etwas mit dem Gehirn unserer Vorfahren. Logisches Denken wurde eine Sitte, die sich mit jedem Jahr weiterentwickelte", ich holte Luft, "Der Mensch stieg in der Rangliste nach oben. Es gab weniger Gefahren, man achtete weniger auf seine Umgebung, sondern eher auf sich selbst. Luxus, Geld, Macht... Alles nur Nebenprodukte einer geistlichen Entwicklung."

Es entstand eine peinliche Stille zwischen uns, während er meine Worte sacken ließ.

Dann grinste er. "Nicht schlecht, Ayuna", er streckte sich, "Eine sehr interessante Denkweise, die man dir vermittelt hat." Ich sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Er lachte nur. "Die Psychologie. Deine Art und Weise des Denkens ist anders angehaucht als beispielsweise die von einem Mediziner", fügte er hinzu und ich wusste nicht, ob ich es als eine Beleidigung auffassen sollte.

Der Typ war einfach viel zu gut darin, seine Worte zu verschlüsseln.

"Was denken denn die 'Mediziner' über die Entwicklung des Egoismus?", stellte ich als Gegenfrage, um meine Verwirrung über seine Worte etwas zu überspielen.

Er lehnte sich nach vorne und stützte seine Ellbogen auf seinen Oberschenkeln ab. "Nun. Mit der Weiterentwicklung hast du nicht ganz Unrecht, ich sehe es allerdings in einem anderen Licht. Der Mensch ist von Natur aus schon immer egoistisch gewesen. Er hat von Anfang an für das Überleben seinesgleichen sorgen wollen, doch er ist dem Egoismus weiter verfallen, als er gemerkt hat, wozu er eigentlich im Stande ist. Es ist eine Weiterentwicklung, ja, aber ich sehe es nicht geistlich, sondern körperlich. Der Mensch hat sich verändert und sich an die Bedingungen angepasst. Er hat sich schneller entwickelt, als andere Arten es getan hatten. Und das hat ihm zum Egoismus getrieben, als er die Stärke begriffen hat", er räusperte sich und sah mich dann an.

Ich lächelte leicht.

"Mediziner... Ihr kommt aus dem gleichen Feld wie die klinischen Psychologen, doch ihr habt trotzdem eine grundverschiedene Ansicht – es ist irgendwie gruselig, als auch interessant", erwiderte ich und er begann zu grinsen.

"Das nennt man Denk- und Meinungsfreiheit", witzelte er, "Das solltest du eigentlich wissen." Ich rollte nur meine Augen und lehnte mich dann zurück, um mich ein wenig zu entspannen. Er schaffte es immer wieder, mir meine Worte in meinem Mund zu verdrehen.

Als er schließlich aufstand, legte sich mein Blick wieder auf ihn.

"Ich bin gleich wieder da", murmelte er einfach nur, bevor er den Raum verließ. Ich blickte ihm nach, bevor ich mich wieder meinen Gedanken widmete.

Diese ganze Situation hatte meine Gefühls- und Gedankenlage noch weiter ins Chaos getrieben.

Wir konnten gut miteinander reden - es war ein Privileg, eine vernünftige Konversation mit ihm zu führen, das wusste ich. Er redete nur mit Personen, die ihm für würdig erschienen.

Irgendwie machte es mich glücklich, es gab mir Hoffnung - obwohl ich wusste, dass diese Hoffnung nur an einem seidenen Faden hing.

Wie ironisch, oder?

Seufzend stand ich auf und stellte mich zum Fenster, wo ich eine gute Aussicht auf das Geschehen draußen hatte.

Wie grün Tokio jetzt doch war... Es war irgendwie beruhigend, wenn man die Natur liebte, doch es warf auch Fragen auf.

Wie konnte es so grün sein?

Wieso waren die Pflanzen so schnell gewachsen?

Ich hatte noch immer nicht erfahren können, was das Borderland eigentlich für ein Ort war und wieso wir hier waren.

Und was war mit Ayumi? Nicht, dass es mich wirklich kümmerte, aber ich wollte schon gerne wissen, ob ich noch einmal in Kontakt mit ihr treten würde.

Es klappert hinter mir und ich blickte zu Chishiya, der soeben zurückgekehrt war. In seiner Hand hatte er etwas zu Essen. Ich ließ vom Fenster ab und setzte mich zu ihm. Er gab mir eine Packung Kekse ab und ich dankte ihm, bevor ich zaghaft zu knabbern begann. Hin und wieder bemerkte ich den prüfenden Blick, den er mir zuwarf, doch ich ignorierte ihn.

Morgen würden wir spielen.

Ich hatte keine Ahnung, was auf uns zukommen könnte - was erneut ein Feuer in meinem Inneren entfachte.

The Winners Take It All | ChishiyaWhere stories live. Discover now