18 - Der Anker

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Sie schluckte, und er legte nach: „Tu uns beiden einen Gefallen und sprich mit mir. Ich weiß, dass du stark sein willst, es bisher immer warst. Aber es ist kein Zeichen von Schwäche, sich anderen anzuvertrauen und helfen zu lassen. Glaub mir, ich habe in Sams Selbsthilfegruppe viele starke Menschen gesehen, die früher oder später unter der Last zerbrochen sind – aber das musst du nicht. Du darfst nicht."

„Warum darf ich das nicht?", fragte sie, als sie sicher war, dass ihre Stimme ihr gehorchen würde.

„Weil ich dich brauche."

Dann schwieg er, wie um ihr die Gelegenheit zu geben, das zu verdauen. Was auch nötig war: Dieser simple Satz haute sie um, und sie ließ ihren Atem entweichen, als hätte sie ihn minutenlang angehalten. Konnte es wirklich so einfach sein? Dass sie zuvor nie das Gefühl hatte, gebraucht zu werden? Sie hatte sich immer selbst für bindungsunfähig gehalten, es auf ihren Drang zur Unabhängigkeit geschoben, dass sie es selten mehr als einige Monate mit einem Mann ausgehalten hatte. Okay, der eine oder andere miese Typ war dabei gewesen, doch oft hatte sie sogar die Beziehungen beendet, die ihre engsten Freunde und Mitbewohner für perfekt gehalten hatten.

Steve hatte mit diesen vier Worten eine Saite in ihr zum Klingen gebracht, von der sie nicht einmal geahnt hatte, dass sie existierte. Sie wollte gebraucht werden, und es war unfassbar, dass ein so attraktiver Mann sie brauchte und es zugab. Sie legte ihm eine Hand auf die Brust und unterdrückte den Hauch von Selbstzweifel, der in ihr aufsteigen wollte.

„Wie könnte jemand wie du, Captain America, der die Welt gerettet hat, jemanden wie mich brauchen?"

Ihre Knie wurden weich, als er sie sanft auf die Stirn küsste.

„Weil ich das nicht immer war", erwiderte er genauso leise, zog sie an sich und strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Ich war ein unsicherer Junge, der die Chance ergriffen hat, etwas in der Welt zu verändern, und der dadurch ganz plötzlich mit einer Verantwortung konfrontiert wurde, für die er noch nicht bereit war. Und kaum jemand sah es. Heute sehen erst recht alle nur die Fassade. Den experimentellen Supersoldaten, diesen leeren Titel. Aber du siehst mehr als das, du siehst mich. Du bist der Anker, den ich brauche, um in dieser neuen Welt Halt zu finden."

Ein Glühen entfaltete sich in Yukis Brust, und sie war ein weiteres Mal froh darüber, nicht so leicht zu erröten. Die Wärme verfehlte ihre Wirkung nicht und ließ den Eispanzer, den sie seit dem Aufbruch aus Dr. Weißmüllers Suite trug, immer weiter schmelzen, bis nichts übrig blieb.

„Du hättest dir einen stärkeren Anker aussuchen sollen", sagte sie und lächelte schief.

„Glaub mir, Stärke gibt es in vielen Facetten und du bist stark. Sonst wärst du nicht so weit gekommen. Aber ich brauch dich nicht nur als Anker."

Sie blinzelte verwirrt. „Als wenn das nicht schon genug an Verantwortung wäre..., als was denn noch?"

„Ich brauche dich konzentriert und seelisch an einem Stück für die Aufgabe, die uns erwartet. Es wird nicht einfach werden in Japan, wenn Hydra, wie wir vermuten, dort ihre Basis hat. Und wenn du zusammenklappst, werden wir nicht lebend aus der Geschichte rauskommen. Und ich mag mein neues Leben mit dir. Bitte, rede mit mir. Lass mich dir helfen und dein Anker sein!"

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Grenzenlose Erleichterung durchflutete Steve, als Yuki sich ihm endlich öffnete und ihrem Kummer freien Lauf ließ. Erst hatte sie sich nur stumm an ihn geklammert und lautlos geweint. Danach, als wäre ein Damm gebrochen, hatte sie laut und hemmungslos geschluchzt und dem Universum alle möglichen Verwünschungen entgegen geschleudert. Seltsamerweise fühlte er sich nicht annähernd so unbeholfen wie sonst, wenn er mit weinenden Frauen zu tun hatte, welche in etwa eine ähnliche Auswirkung auf ihn hatten, wie aufdringliche Frauen. Zwar wühlte ihn ihr emotionaler Aufruhr mindestens ebenso auf, weil er nichts lieber wollte, als dass sie glücklich wäre und es ihr an nichts fehlte, doch er spürte jetzt, dass er dem nicht hilflos gegenüberstand. Ohne zu wissen, wie er es genau bewerkstelligte, half seine Gegenwart ihr dabei, den Schmerz zuzulassen und in der Folge auch die reinigende Wirkung. Anfangs hatte sie nicht viel gesprochen, er hatte sie sowieso kaum verstanden, doch später erzählte sie von Kindheitserinnerungen an Familienurlaube, von vielen kleinen, liebevollen Anekdoten aus dem Hause Leclerc, wie ihre Eltern ihr das erste Haustier, ihren einäugigen Kater Merlin, aus dem Tierheim mitgebracht hatten. All das war auf sie eingestürmt, als sie das Video gestartet hatte. Und am Ende gestand sie ihm ihre Gewissensbisse, die sie plagten, weil sie ihre Mutter am letzten Tag ihres Lebens belogen und vertröstet hatte.

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