Zeichen setzen?

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15.11.2022 | Sultan-Qabus-Sportzentrum | Maskat, Oman


„Mitkommen", war alles, was Leon zu Nico sagte, kaum war das Training beendet. Anschließend zog er ihn kurzerhand hinter sich her und blieb mit ihm am Rand des Trainingsplatzes stehen. Eigentlich wollte Nico gerade nichts lieber als eine ausgiebige Dusche und anschließend vielleicht nochmal mit Jude telefonieren, denn was auch immer es war, der 19-Jährige hatte eine unglaublich beruhigende Wirkung auf ihn und er fühlte sich von ihm verstanden. Warum Leon hingegen mit ihm sprechen wollte, wusste er nicht.

„Nico, ich will nicht sagen, dass ich dich vorhin belauscht habe, aber die Wände hier sind einfach verdammt dünn", fing der Mittelfeldspieler zögernd an. Verwirrung war alles, was Nicos Zustand daraufhin beschreiben konnte. Völlig irritiert sah er seinen Gegenüber an. Dieser meinte etwas unsicher: „Du hast mit irgendwem telefoniert... Und so wie das klang... Also ich wollte dir eigentlich nur sagen, das wird schon. Ich hab ehrlich auch Angst, aber nur weil Katar ein Land ist, das von Menschenrechten und Fortschritt offenbar noch nie etwas gehört hat, heißt das nicht, dass wir da nicht hin können. Wenn die was gegen mich haben, weil ich in einer Beziehung mit einem Mann bin, ist das deren Problem und nicht meins. Deswegen, Nico, zeigen wir denen, dass wir dadurch nichts Schlechteres sind, in Ordnung?"

Nico musste in diesem Moment so viel auf einmal verarbeiten. Leon hatte sein Telefonat mit Jude mitbekommen? Und jetzt versuchte er ihn irgendwie zu motivieren, damit er sich die WM-Sache nicht doch noch anders überlegte?

„Weißt du", fuhr Leon fort, „ich hab vor einer knappen Woche ein ziemlich interessantes Interview gegeben. Es braucht nur ein oder zwei Anrufe von mir und das wird öffentlich." Jetzt war Nico erst recht verwirrt. Er hatte keinen blassen Schimmer, wovon der Bayernspieler sprach. Das wurde ihm jedoch klarer als dieser hinzufügte: „Ich seh schon die Schlagzeile vor mir: Profifußballer steht offen zu Bisexualität – Katar machtlos." Ein winziges Grinsen schlich sich auf Nicos Lippen. Eigentlich hatte Leon doch recht. Was sollte schon passieren. Erstens wusste sowieso niemand von seiner sexuellen Orientierung und selbst wenn das rauskommen sollte, was sollte schon groß schiefgehen? Würden diese Haftstrafen auch bei ihm greifen? Wie war das für ihn als Deutscher Staatsbürger, wenn er im Ausland sozusagen eine Straftat beging – als könnte er etwas dafür – die jedoch in Deutschland nicht annähernd strafbar war?

Er fand den Gedanken, dass Leute inhaftiert werden konnten, wegen etwas, was für ihn selbstverständlich war, sowieso völlig falsch. Als wäre Liebe etwas Verwerfliches. Vielleicht müsste jemand einfach ein Zeichen setzen. Was das bringen würde, wusste er selbst nicht, denn Katar würde wohl kaum von jetzt auf gleich Rechte und Solidarität entwickeln, nur weil sich ein nicht mal allzu bekannter Fußballer vor der Öffentlichkeit outete, aber vielleicht waren da irgendwelche Menschen, denen man mit so etwas Hoffnung schenken könnte. Vorstellen, wie es sein musste, in Ländern wie Katar zu leben, wissend, dass man nicht man selbst sein durfte, konnte Nico sich schlichtweg nicht.

Momentan war er definitiv nicht bereit damit an die Öffentlichkeit zu gehen, doch vielleicht früher oder später. Und wenn es am Ende Leon war, der sein Interview veröffentlichte, es wäre einen Versuch wert. Irgendwer musste doch irgendetwas tun können.

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