» Kapitel 06

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»Wäre schön, dich wiederzusehen. Viel zu lang ist's her. Würde mich freuen, wenn du mal wieder einen Blick in mein neues Heim und mein Studentenleben wirfst. Ich würde dir gern den Rest der Stadt vorstellen. Fühl dich gedrückt, Lia xxx!«




Seufzend hob ich meinen Kopf von dem Fenster der U-Bahn. Die Gedanken, welche ich mir sonst darum machte, wer wohl schon mit seinen ungewaschenen Haaren an eben gleicher Scheibe gelehnt hatte, spielten heute Morgen keine Rolle. Viel mehr beschäftigte mich der gestrige Abend.

Der Schmerz lag jetzt nicht nur in meiner Seele, in meinem Herz, sondern auch in meinen Knochen. Ich war wieder auf dem Sofa eingeschlafen, hatte mich in den Schlaf geweint, weswegen jeder Knochen schmerzte und jeder noch so ruhige Ton meinem Kopf so sehr schadete, dass ich das Gefühl hatte, er würde jeden Moment platzen. Schon beim Aufwachen fragte ich mich, wie ich die Vorlesungen in Pädagogik und Psychologie überstehen sollte. Wenn ich wenigstens Modulfächer hätte, wo es auf eine Vorlesung mehr oder weniger nicht ankam, hätte ich den Schlaf, der mir in der Nacht auf dem Sofa aus den Knochen gesogen wurde, nachholen können. Den hätte ich nicht nur gebrauchen können, sondern eigentlich war es schon Pflicht, mir den Schlaf zu nehmen, um meinem Körper nicht ganz zu schaden.

Als die U-Bahn an der Station hielt, an der sich die Freie Universität Berlin befand und mein Alltag mir nur so entgegen sprang, sobald sich die Türen öffneten und die vielen Menschen sich um mich tummelten, wünschte ich mir meine eigenen vier Wände umso mehr. Früher wollte ich unbedingt aus meinem kleinen Dorf heraus und hier nach Berlin kommen – nicht allein wegen der Tatsache, dass ich mein ganzes Leben, Jahr für Jahr, Berlin besucht und mehrere Wochen hier verbracht hatte, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass ich diese verschiedenen Menschen, die Freiheit, die man in gewisser Weise in dieser Großstadt, wo nicht jeder jeden kannte, hatte. Doch seitdem Emmi mir gebeichtet hatte, dass Tim und ich womöglich tagtäglich über den gleichen Campus liefen, hätte ich am liebsten meine Tasche gepackt, um mit dem nächstbesten Zug zurück in mein Dörfchen zu fahren. Zwar wünschte ich mir oft, ihn wiederzusehen, jedoch wusste ich auch, dass ich diesen Moment unmöglich alleine, ohne Em, überstehen würde.

»Hey, Lia.«, legte sich ein Arm um meine Schulter, als ich den riesigen Campus der FU betrat und ich mich auf den Weg zu dem Gebäudekomplex der Erziehungs- und Bildungswissenschaften machen wollte.

»Ah, Lenny.«, quälte ich mir ein Lächeln auf die Lippen und ließ mir von einem weiteren Studenten, der in den drei Jahren die gleichen Vorlesungen hatte, wie ich und zu einem guten Freund geworden ist, einen Kuss auf die Wange drücken.

»Wie geht's dir, Beautiful?«, pfiff er fröhlich, während er nicht eine Sekunde seinen Arm von meiner Schulter nahm. Nicht, dass ich es nicht genoss, jedoch passte seine Stimmung nicht gerade gut zu meiner. Auch wenn ich mich anstrengen würde – heute würde ich mich keinesfalls auch nur halbwegs anpassen können.

»Ging schon mal besser.«, hauchte ich in die morgendliche Sonne, schob meine Tasche weiter auf meine Schulter und knöpfte meinen Blazer auf. »Aber du bist total motiviert was die kommenden Vorlesungen angeht, oder?«

»Was heißt motiviert. Ich denke, man kann eh nichts dagegen tun. Also versuche ich mir das Ganze mit ein wenig guter Laune schmackhafter zu machen.«, er strubbelte mir durch die Haare. »Und was ist dir für eine Laus über die Leber gelaufen?«

»Die Laus trägt den Namen Tim und kann sich seit vorgestern Sieger des Talentwettbewerbes Söhne gesucht nennen.«, seufzte ich nur und blieb mit hängenden Schultern stehen, weshalb Lennys Arm von ganz allein von meiner Schulter rutschte.

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