» Kapitel 04

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An seiner Brust gelehnt saß ich auf seinem Schoß, spürte, wie der Wind durch meine Haare wehte und wie er immer wieder langsam mit seinen Fingerkuppen über meinen nackten Unterarm fuhr. Eine unbeschreibliche Gänsehaut zog sich über meinen gesamten Körper, mein Atem blieb mir bei jedem noch so kleinen, hauchenden Kuss auf meine Wange stehen und mein Herz konnte sich nicht entscheiden, ob es vor Glück losrasen oder stehenbleiben sollte. 
Leicht strich ich über Tims Wange und sah ihm in seine Augen, um mir das Okay für einen weiteren Kuss zu holen. Wieder riss er mich in die Welt, die sich zwischen Realität und Traumwelt befand. Ein Gefühl, welches ich noch nie zuvor verspürt hatte, beflügelte mich immer wieder von Neuem.
»Wollen wir reingehen?«, hauchte er gegen meine Lippen und drückte mir noch einen kurzen Kuss auf. Lediglich ein Nicken brachte ich heraus, ehe ich schon fast liebestrunken von seinem Schoß hüpfte und seine entgegen gestreckte Hand ergriff, an die ich mich klammerte. Ich sah das Lächeln auf seinen Lippen, welches mich unaufhörlich ansteckte und grinsend gen Boden sehen ließ. Ich war glücklich. Glücklich wegen dem Menschen, dem ich zuvor so viel Skepsis entgegengebracht hatte, dass es mir schon leid tat.
»Ey, habt ihr gerade rumgeleckt? Hat Em nämlich erzählt!«, rief ein betrunkenes Mädchen zwischen den rauchenden Jugendlichen vor der Tür des Gemeindezentrums in Tims und meine Richtung. 
»Oh man.«, brachte ich nur leise hervor und drückte leicht Tims Hand. Meinen Blick hatte ich noch immer gen Boden gerichtet, da mir sonst womöglich jeder an der Nasenspitze angesehen hätte, was vor ein paar Minuten passiert ist – wahrscheinlich hätten die Leute, die ein wenig zu viel Alkohol getrunken hatten, noch jegliche andere Dinger herein interpretiert. 
»Lass uns ein bisschen hinsetzen, ja?«, rief Tim gegen die Musik an und deutete an den runden Tisch, an dem wir zuvor auch gesessen hatten. Schon aus der etwas größeren Entfernung konnte ich Phils Blick auf Tim und mir spüren. Ich wusste nicht, wie ich seinen Blick deuten sollte, achtete jedoch auch nicht weiter auf ihn, sondern konzentrierte mich auf meinen Begleiter, der mich schon grinsend neben sich auf die Eckbank zog. 
»Trinken?«, stupste er mich an und legte seinen Arm um meine Schulter. 
»Gern.«, grinste ich und ließ mir ein Glas Sekt einschenken. Die Situation, die sich gerade vor mir aufbrachte, erinnerte mich nur zu gut an den Anblick, den Tim mir zuvor mit der brünetten Dame bot. Doch ich wollte nicht daran denken. Ob es aus dem Grund war, dass es sich einfach viel zu sehr ähnelte und auch Tim sich mir gegenüber seltsamerweise gleich verhielt, oder ob ich die momentane Situation einfach nur genießen wollte, wusste ich selbst nicht. Doch hätte ich klarer gedacht, hätte ich die Distanz in den wenigen Minuten, die uns noch blieben, nicht noch mehr gebrochen. Ich kam ihm von Sekunde zu Sekunde einfach nur noch näher und erahnte nicht, in welch seelisches Unglück ich mich damit stürzte. 
»Hast du es dir schlimmer vorgestellt?«, brach Tim plötzlich die Stille, indem er näher an mich heran rutschte und mir die Worte nur so ins Ohr hauchte. 
»Was?«, stirnrunzelnd sah ich ihn an. Fast schon hätte ich gedacht, er würde mich auf die letzten Minuten ansprechen, doch dass das selbst für seinen ungewöhnlichen Charakter schier unmöglich war, war auch mir irgendwo bewusst.
»Na so viele neue Leute kennenzulernen.«, fast schon erleichtert atmete ich aus. 
»Ehrlich gesagt schon. Aber ihr seid ja alle ziemlich...offen.«, grinste ich ihn mit einer zweideutig in meiner Antwort an, woraufhin er mich nur lachend an sich zog und mir aus reiner Provokation einen Kuss auf die Lippen drückte. Man bildete sich viel ein, wenn man in solch einer Situation steckte und genau das tat auch ich – er küsste mich vor allen Leute, jeder konnte es sehen! 
»Guck mal, Em torkelt ja auch schon ganz schön.«, grinste er über meine Schulter hinweg, woraufhin ich mich sofort umdrehte. Wahrlich – meine beste Freundin kam in den großen Saal gelaufen und sah sich mit ihren kleinen Augen in dem gesamten Raum um. Auch ihre Schuhe hatte sie mittlerweile von den Füßen gestreift und trug nun nicht mal mehr ihre Ballerina, sondern allein ihre schwarze Strumpfhose trennte ihre nackten Füße von den kalten Fließen. 
»Ich geh mal eben zu ihr hin.«, entschuldigend blickte ich Tim an, der mich nur lächelnd ansah und ein letztes Mal über mein Bein strich. Lächelnd ging ich auf meine Freundin zu, die perplex stehen blieb und mich grinsend ansah, als sie die ersten Töne von Helene Fischer‘s Fieber vernahm. Sofort nahm ich sie in meine Fittiche und versuchte sie mehr schlecht als recht zum Takt über die Tanzfläche zu schieben. 
»Klappt doch.«, lachte ich, als sie torkelnd an meinen Armen hing und mich lachend und singend zugleich ansah. Doch je länger wir tanzten, desto stiller und grimmiger wurde ihr Gesicht.
»Lia, ich weiß, was vorhin mit Lisa und Tim los war.«, platzte es dann urplötzlich aus ihr raus. Allein die Tonart, die ihre Stimme umspielte, verriet mir, dass mich das Kommende wie einen Schlag treffen würde. »Lisa hat einen riesigen Knutschfleck am Hals. Die beiden hatten was miteinander. Ich hab sie gefragt.«, dieses Mal war ich diejenige, die total perplex und mit dem ausgesprochenen Fakt überfordert, stehen blieb. Langsam löste ich mich von meiner besten Freundin.
»Ich will hier raus.«, nuschelte ich nur und ging in Richtung Tisch, an welchem Tim noch immer saß und sich freudig mit Phil unterhielt, und schnappte mir meine Tasche, um mich kurz darauf wieder umzudrehen. 
»Hey, ich komm mit.«, rief Emmis Freund neben der Stimme meiner Freundin, die zu Tim zu sagen schien, dass sie sich wohl mal unterhalten sollten, in meine Richtung und kam mir eilig hinterher gerannt. 
Wieder wusste ich nicht, was mit mir geschah. Einzig und allein die Tatsache, dass eine Welt in mir zusammenbrach, ließ mich spüren, dass ich zurück in der Realität war und die Zeit mit Tim vor wenigen Minuten nichts anderes als ein Traum gewesen sein muss. Noch immer konnte ich seine Lippen auf meinen spüren. Spüren, wie sich das Feuer in mir entfachte, sobald er mich mit der Begierde und Sehnsucht ansah und fast schon stürmisch meine Lippen massierte. Meine Haut brannte, als hätte ich mich mit heißem Wasser verbrannt und das erste Mal an diesem Abend wünschte ich mir, all seine Berührungen mit dem gegensätzlichen, dem kaltem Wasser, zu übergießen und somit rückgängig machen zu können. 
»Geh ruhig rein, ich rede mit ihr.«, hörte ich die leise Stimme von Em in weiter Entfernung und spürte, wie sie sich kurze Zeit später neben mich setzte. 
»Es tut mir leid.«, hauchte sie in die stille Abendluft. Hier und da konnte man den Beat des gerade laufenden Liedes spüren und vereinzelte Menschenstimmen hören. Doch sonst war da nichts – einfach nur diese ohrenbetäubende Stille, die mich fast schon um den Verstand brachte. 
»Schon okay. Was hat er zu dir gemeint?«, riss ich mich zusammen und kramte wieder die gleichgültige Seite aus meinem Inneren hervor.
»Er will mit dir reden.«
»Dann hol ihn her.«

»Hey.«
»Beeil dich bitte, ich will wieder rein.«, gab ich nur stumpf von mir und entwich Tims Blick.
»Es tut mir leid, wie das gelaufen ist. Weißt du...ach, ich weiß gar nicht, wie ich dir das erklären soll.«, ich spürte, dass er aufgeregt war und auch der Alkohol in seinem Blut schien ihm die kommende Erklärung nicht leichter zu machen. »Meine Ex-Freundin hatte was mit einem anderen, hat mich betrogen, und ich will jetzt halt auch einfach mal Spaß haben und bin noch nicht bereit für irgendetwas Festes. Ich wusste ja nicht, auf was ich mich hier einlasse.«, gehässig lachte ich auf und schüttelte meinen Kopf.
»Bist du fertig?«, mit einem kurzen Blick, als wolle ich mir seine Augen, seinen Blick und jeden noch so kleinen Gesichtszug einprägen, funkelte ich ihn an, ehe ich – ohne eine Antwort abzuwarten – aufstand und mir im Weggehen meinen Rock glatt strich. 
»Lia, es tut mir wirklich leid!«, rief er ein letztes Mal. Ein letztes Mal, dass ich seine Stimme hörte, wie sie Worte an mich richtete. Ein letztes Mal, dass ich spürte, dass sein Blick in meinem Rücken lag und er mich musterte. Ein letztes Mal, dass ich seinen Körper in meiner Nähe zu wissen schien und ein letztes Mal, dass ich seinen Duft in meiner Nähe nur erahnen konnte. 
Es gab keine Verabschiedung, keine Worte von ihm, die noch einmal versuchten, sich zu entschuldigen oder irgendetwas zu erklären.

Als ich am nächsten Tag in mein Auto stieg, die Tür hinter mir zuzog, meine Sonnenbrille aufsetzte, Emmi ein letztes Mal zuwinkte und sich die Bilder langsam aber sicher in entgegengesetzter Richtung abspielten wie an dem Tag, an dem ich gekommen war, wusste ich, dass es vorbei war. Endgültig vorbei mit diesem Abend, mit dieser Party. Mit dem Verlassen des kleinen Dorfes würde ich ihn hinter mir lassen und wahrscheinlich nie wieder sehen. Doch so unverhofft auch der Abend kam, so unverhofft kam wohl auch alles andere in meinem Leben.
Ich spürte plötzlich, wie die Tränen sich in meinen Augen sammelten. Ein letztes Mal fuhr ich am Gemeindezentrum vorbei, ein Schluchzen durchfuhr meinen Körper und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass dieser kurze Moment mit Tim an der Party zu einer jahrelangen Geschichte werden würde. 

I don‘t wanna waste the weekend if you don‘t love me, pretend
A few more hours then it‘s time to go
As my train roles down the eaastcoast, I wonder how you keep warm
it‘s too late to cry, too broken to move on
and still I can‘t let you be
Most nights I hardly sleep
don‘t seek what you don‘t need for me.


Ron Pope - A drop in the ocean

In dein HerzWhere stories live. Discover now