𝐅𝐔𝐄𝐍𝐅 | zweifel

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donnerstag, 22.09.2022

Ich habe die letzte Nacht kaum geschlafen. Erst gegen 21 Uhr war ich zuhause, weil mein Shuttle ewig im Stau stand. Dann wurde ich erstmal von Edin angerufen, weil er wissen wollte, was ich habe. Er hat zwar probiert, mir Mut zu machen, dass meine WM Chance darunter nicht leiden wird, aber ich glaube ihm nicht.
Warum sollte sie nicht leiden? Ich bin kein Bayern-Spieler, die ihren Platz zu 100% sicher haben. Nein, ich muss mich jedes Mal aufs Neue mehr und mehr beweisen und jetzt kann ich das nicht mal. Ich kann die nächsten Tage nicht mal trainieren, um mich zu verbessern. Ich kann nur die ganze Zeit im Bett liegen und mich selber bemitleiden.
Ich bereue es so sehr, auf dieses verdammte Oktoberfest gegangen zu sein. Verdammt, das war so unverantwortlich und leichtsinning von mir. Warum konnte ich Marius nicht einfach absagen?!
Zu allem übel durfte ich mich nicht einmal richtig von Kai verabschieden, weil dieser dann direkt weggeschickt wurde, um sich nicht anzustecken. Wenn die dort nur wüssten..
Wir hatten uns so gefreut, endlich wieder Zeit miteinander zu verbringen, zusammen zu trainieren und womöglich sogar zusammen zu spielen.
Und jetzt habe ich Dummkopf alles kaputt gemacht.

Den ganzen Tag liege ich im Bett und ziehen mir Anime Folgen rein. Unzählige Taschentücher liegen neben und auf meinem Bett. Unser Mannschaftsarzt vom BVB kam vorhin kurz her, um nach mir zu sehen, sonst meide ich jeden sozialen Kontakt und gucke nicht einmal auf mein Handy. Kai wird sowieso keine Zeit haben, um mit mir zu reden. Erst Abschlusstraining, dann die Fahrt nach Leipzig - da bin ich überflüssig.
Erst abends habe ich irgendwann genug von meiner Serie, ich hab das alles schon zu oft gesehen. Ich überlege, womit ich mich beschäftigen kann, denn ich hasse Langeweile. Wenn ich nichts zu tun habe und einfach nur im Bett liege, fange ich an, nachzudenken - zu viel nachzudenken. Gedanken, die ich nicht haben will, kommen dann immer in meinen Kopf und machen mich fertig.
Ich nehme mir dann doch mein Handy und sofort springen mir mehrere Nachrichten und verpasste Anrufe von Kai ins Auge, zwischen tausenden Instagram- und Twitterbenachrichtigungen. Eigentlich würde ich meinen Freund ja zurückrufen, aber es ist schon spät und er hat morgen ein Spiel. Er soll sich ausruhen und morgen gut spielen, wenigstens er soll Hansi überzeugen können.

Ich tue genau das, was ich nicht tun sollte: Ich fange an, Tweets über mich zu lesen. Früher war es eine Angewohnheit nach jedem Spiel, die ich irgendwann überwinden konnte. Es hat mich kaputt gemacht, die ganzen Hatekommentare zu lesen, sodass selbst berechtigte Kritik irgendwann zu viel war. Ich weiß nicht, was mich jetzt dazu treibt, wieder nach meinem Namen zu suchen und wieder die ganze Scheiße zu lesen, aber ich lese immer und immer weiter, scrolle immer weiter runter und je mehr ich davon lese, desto beschissener fühle ich mich.
Vielleicht bin ich ja wirklich so schlecht, wie alle sagen, und vielleicht hatte ich diese Nominierung auch gar nicht verdient. Vielleicht ist es ein Zeichen des Schicksals, dass ich jetzt abreisen musste: Ich gehöre nicht zu dieser WM. Ich bin nicht gut genug für die Nationalmannschaft, was mache ich mir hier überhaupt vor? Ich bin kein Spieler, dem man 100% vertraut. Ich bin kein Spieler, der einem Team weiterhelfen kann. Ich bin kein Spieler wie ein Marco Reus, wie ein Thomas Müller oder wie ein.. Kai Havertz. Ich werde keinem Trainer und keinem Team je genug sein.

Ich lese mir die ganzen Kommentare unter meinen Tweets durch, es sind nur teilweise wenige nette dabei. Ich will nicht, dass die Leute sowas schreiben, ich will das nicht mehr sehen. Nach und nach lösche ich immer weiter Tweets, bis nur noch einige übrig bleiben. Aber das ist mir nicht genug - ich lösche die ganze App direkt. So muss ich nicht mehr mitbekommen, was da alles geschrieben wird.
Als nächstes ist mein Instagramaccount dran. Genauso wie auf Twitter lösche ich Bilder, wo zu viel Hate drunter steht und weitere Bilder, auf denen ich mir selber nicht mehr gefalle, wo ich mich eigentlich schon fast hässlich finde. Selbst Bilder aus Leverkusen und Bilder mit Kai archiviere ich, weil ich mich selber so klein und mickrig neben den anderen fühle. Ich weiß, dass ich viel schlechter bin, als die anderen, ich muss nicht jeden Tag daran erinnert werden.
Am Ende sind es über 170 Bilder, die nun in meinem Archiv sind. Bei manchen Bildern habe ich es einfach nicht übers Herz gebracht, sie von meinem Account zu entfernen. Als letztes habe ich noch mein Profilbild gelöscht und einen Anime Charakter als neues genommen. Das Bild von mir war alt, ich hatte es ewig nicht ausgetauscht. Ich wollte das nicht mehr dort haben und generell keins von mir.
Ich habe gar nicht gemerkt, wie mir mit der Zeit Tränen über die Wangen gelaufen sind. Es fühlt sich an, als würde ich gerade mit meinem alten Ich abschließen. Ich radiere den alten Julian Brandt aus, den gibt es nicht mehr. Jetzt bin ich nur noch der Julian Brandt, der nicht gut genug ist.
Und den alle hassen.

𝐎𝐊𝐓𝐎𝐁𝐄𝐑𝐅𝐄𝐒𝐓 | bravertzWhere stories live. Discover now