Liege wieder wach

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Jetzt liege ich halb auf meiner Couch und versuche gegen die Stimmen in meinem Kopf anzukämpfen. Jacke und Schuhe habe ich nicht ausgezogen. Kaum hatte ich meine Wohnung betreten und die Tür hinter mir leise ins Schloss fallen lassen, brach auch schon die Realität über mich herein. Mein Körper versteifte sich und in mir kam der Drang auf zum Fenster zu laufen und Felix zu beobachten, wie er die Straße hinunterläuft zu seiner Wohnung. Doch noch während ich daran dachte und meine Füße sich wie von alleine in Bewegung setzten, verwarf ich den Gedanken und kam mir kindisch vor. Ich fuhr mir mit meiner Hand über die Schläfe und zwang mich auf halbem Weg abzubrechen und mich kurz hinzusetzen.

Ich habe mir nicht einmal die Mühe gemacht, das Deckenlicht anzumachen. Es stört mich auch nicht weiter hier im Dunkeln zu sitzen. Ich lege den Kopf in den Nacken, fokussiere mich auf alle Geräusche, die ich wahrnehmen kann, um mich halbwegs abzulenken. Das Ticken der Uhr in der Küche, der Stoff meiner Jacke, der kurz knistert und raschelt, als ich mich bewege. Sonst ist da nichts weiter. Nur noch die Realität, die geduldig darauf gewartet hat, bis mir die Energie ausgegangen ist, um sie zu leugnen.

Ich starre auf den schwarzen Bildschirm meines Fernsehers und ringe mit dem Gedanken den in mir aufkommenden Ängsten meinen kleinen Finger zu reichen, damit sie mich verschlingen können.

Ruckartig stehe ich auf und mache mich auf den Weg in meinen Flur. Die kurze Schwärze vor meinen Augen und den Gefühlsverlust über meinen Körper ignoriere ich. Ich ziehe Jacke und Schuhe aus, werfe alles ab und mache mich in meinem Schlafzimmer auf die Suche nach meinem Laptop. Ich greife ihn mir mitsamt Ladekabel und gehe damit in die Küche. Während ich ihn hochfahren lasse und mein Passwort eingebe, mache ich mir eine Tasse Tee.

Ich will keinen Gedanken an Felix verschwenden. Es hat schon lange gebraucht, ihn einigermaßen beiseite zu schieben.

Ich will mich nicht negativ beeinflussen lassen und versuche die Dinge so gut ich kann zu verdrängen. Ich öffne mein Mail Postfach und klicke auf die Neuste. Es ist schon etwas auffällig, wie Raphael und ich uns auf unsere Mails immer spät in der Nacht antworten. Gut, er wird erst dann dazu kommen sich, um private Angelegenheiten zu kümmern. Ich lese seine Nachrichten zwar auch tagsüber, fühle mich aber erst Abends dazu imstande ihm zu antworten.

Wir haben uns das letzte Mal zum Schluss des Praktikums gesehen. Er fuhr Aron und mich zum Flughafen, vergewisserte sich darüber, ob uns die Zeit auch wirklich Spaß gemacht hat, ob wir uns wohlgefühlt haben und ob es uns gut geht. Letztere Frage richtete sich vor allem an mich, das wussten alle im Kreis. Auch am Management ist nicht ganz vorbeigegangen, dass irgendetwas nicht stimmte. Zum Beginn glaubten sie noch unsere Ausreden, ich würde mich krank fühlen. Raphael allerdings war der Erste, der schnell registrierte, dass mich andere Gefühle plagten. Wir redeten nie darüber und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass er bis heute nicht im Ansatz weiß, warum es mir so schlecht ging. Dennoch war er da und versuchte uns beide zu unterstützen, wo er auch konnte.

Es war ziemlich klar, dass man sich nicht nochmal sehen würde. Wann sollte ein solcher Moment auch mal zustande kommen? Doch irgendwann schrieb mir Raphael eine Mail, in welcher er mir erzählte, wie gut er meine Buchempfehlung fand und ob ich ihm nicht noch mehr schicken könnte. Anfangs wusste ich nicht, wie ich mit seiner Nachricht umgehen sollte. Auf einer Seite schmeichelte es mir und ich freute mich darüber, dass jemand die gleiche Faszination für ein Buch empfand, wie ich es tue. Doch die verschiedenen Ebenen, auf denen wir uns eigentlich bewegen, ließ alles so surreal wirken. Ich entschloss mich trotzdem aus Höflichkeit zu antworten und so entstanden aus anfänglichen Buchempfehlungen immer mehr Nachrichten über unsere aktuelle Lage und Gefühlsstände, aber auch über lustigen und bedeutungslosen Mist.

Ich lese mir seine Mail in Ruhe durch. Sie ist deutlich länger als sonst. Ich habe ihm vor einigen Wochen erzählt, endlich das Buch der Steppenwolf zu Ende gelesen zu haben und was es mit mir gemacht hat. Eigentlich lese ich Bücher relativ schnell durch, gerade wenn mich die Handlung einnimmt. Doch dieses ist das erste Buch, wofür ich tatsächlich zwei, wenn nicht sogar zweieinhalb Monate brauchte. Es zerrte so sehr an meinem Gefühlszustand, dass es Phasen gab, in denen ich totale Leere verspürte. Irgendwann rang ich mich dazu durch es nur noch zu lesen, wenn ich mich halbwegs neutral fühlte, denn in depressiven Phasen erschöpfte es einen nur noch mehr.

Ich schmunzle ein wenig über seine letzte Frage.

„Wird es besser? Also, irgendwann zum Schluss?"

Ich öffne das Fenster zum Antworten und gehe zunächst auf die ersten Details ein. Zum Schluss beruhige ich ihn und erkläre, dass es auf jeden Fall positiver wird, als man anfänglich, aber vor allem, wenn man im Mittelteil des Buches feststeckt, wird. Ich schreibe ihm noch, dass er mich unbedingt auf dem Laufenden halten soll, wenn er mit dem Buch durch ist. Es interessiert mich, was es mit ihm macht.

Kurz überlege ich noch, ihm von ein paar neuen Ereignissen aus meinem Leben zu erzählen. Eigentlich nur von Felix. Aber nicht so offensichtlich. Ich freunde mich mit dem Gedanken an ihm von dem heutigen Abend zu erzählen, jemand altes wieder getroffen zu haben und mich nicht entscheiden kann, ob ich mich melden soll. Vielleicht könnte er mir einen Rat geben, aber vielleicht ist die Idee auch ein wenig zu drüber. Nicht dass Raphael nicht hilfsbereit wäre, doch so nahe stehen wir uns auch wieder nicht. Sowas beredet man eher mit seinen engsten Freunden, doch nicht mit einem ehemaligen Chef. Zwar würde ich gerne die Meinung von jemand Außenstehenden hören, doch sobald ich die Mail absenden würde, würde ich mich in Grund und Boden schämen.

Ich belasse es bei meinem aktuellen Text und überfliege diesen nochmal. Als ich mir sicher bin, schicke ich ihn ab. Und wieder sitze ich da und weiß nichts mit mir anzufangen. Ich lasse den Blick schweifen. Es wäre mal wieder längst überfällig aufzuräumen und sauberzumachen. Ich will gar nicht ausrechnen, wie lange ich das bereits aufschiebe. Einen Moment lang überlege ich noch, ob ich noch was am Laptop machen könnte, doch fahre ihn nach einer Minute wieder runter und schließe ihn. Schwermütig erhebe ich mich von meinem Stuhl und greife nach ein paar Tellern, Gläsern und Tassen und verteile diese in meiner Spülmaschine. Die Küchenoberfläche sieht schon etwas befreiter aus und darauf belasse ich es.

Mit schlurfenden Schritten mache ich mich auf den Weg ins Badezimmer und entscheide mich, mich Bettfertig zu machen. Auch wenn ich mich nicht sonderlich danach fühle zu schlafen. Die Gedanken in meinem Kopf kreisen noch um so vieles herum, dass ich nicht das Gefühl habe zur Ruhe zu kommen.

Während ich mir die Zähne putze, denke ich an meine letzte Therapiesitzung zurück.

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„Wussten Sie, dass die meisten Geschichten, die Menschen auch noch Nachts beschäftigen, häufig welche über die Liebe sind?"

Ich sehe meine Therapeutin nur aus großen Augen an. Ich habe nicht das Gefühl, auf ihre Aussage etwas erwidern zu müssen. Abwartend schaue ich ihr in die Augen.

„Es ist ein bisschen wie ein Rätsel, über das die Menschen nicht genug erfahren können. Wir lesen immerzu dieselben Szenen, dieselben Worte und versuchen die Bedeutung dahinter herauszufinden.", erklärt sie weiter. Dieses Mal sieht sie mich abwartend an.

Meine Lust auf diese Sitzung ist begrenzt und am liebsten hätte ich sie verschoben, wenn ich mich nicht innerlich dazu verpflichtet fühlen würde. Ich zucke, wenig zum Nachdenken angeregt, mit den Schultern und hoffe, sie lässt das Thema erstmal wieder sein und sucht einen neuen Ansatz für unser Gespräch.

„Nichts ist den Menschen vertrauter als die Liebe. Nichts entzieht sich ihnen so vollständig."

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Ich spucke den Rest meiner Zahnpasta ins Waschbecken und spüle mir den Mund aus. Als ich mein Gesicht wasche, denke ich immer wieder an ihre Worte und die Bilder von Felix kehren zurück. Ich trockne mich vorsichtig ab und versuche all die Ideen und Vorschläge, die mein Kopf ausspuckt zu verdrängen. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Phase zu überwinden und hinter mich zu lassen. Einmal noch sein Bild im Kopf, dann häng' ich's ab.

Message (Felix Lobrecht FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt