Noah Baumgartner - Lillys Sicht

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Ich bin kein Mensch, der viel spricht

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Ich bin kein Mensch, der viel spricht. Ich verliere mich gerne in Büchern oder guter Musik. Sie machen, dass ich für einen kurzen Moment die Traurigkeit in mir vergessen kann. Mir wird oft das Gefühl gegeben, dass ich anders bin als andere in meinem Alter. Mit 16 Jahren macht man sich eben noch nicht so wirklich Gedanken über den Tod. Man lebt sein Leben und glaubt, man habe unendlich viel Zeit.

Aber das stimmt nicht. Durch meinen Vater weiß ich, dass die Zeit auf dieser Welt begrenzt ist. Wir dürfen einen weiteren Morgen nicht für selbstverständlich nehmen. Und doch bin ich jedes Mal total unmotiviert, wenn ich durch das Klingeln meines Weckers wach werde und aufstehen muss. Ich habe meinen Lebensinn verloren, weil die Person, die mir so viel bedeutet hat, zu früh von mir gegangen ist. Mein Papa wird nicht in Publikum sitzen, wenn ich mein Abiturzeugnis überreicht bekomme. Ich werde ihm nicht von dem Tag erzählen können, wenn ich meine Führerscheinprüfung bestanden habe. Er wird nicht bei meiner Hochzeit anwesend sein, wenn ich mal jemanden heiraten sollte. Wenn ich irgendwann mal Kinder haben sollte, wird er nicht da sein und mit ihnen spielen. Nie wieder im Leben werde ich seine Stimme hören, ihm Dinge erzählen können oder eine feste Umarmung von ihm bekommen.

Ich werde emotional, wenn ich sehe, wie ein kleines Kind mit seinem Vater gemeinsam lacht. In solchen Momenten erinnere ich mich daran, wie mein Vater sich zu mir in den Sandkasten gesetzt hat oder mit mir im Wald spazieren gegangen ist. Ich kann jetzt noch den Sand unter meinen Fingern fühlen und die frische Waldluft riechen, wenn ich die Augen schließe. Auf meiner Zunge schmecke ich den Geschmack von dem Kakao, den er stets für mich gemacht hat, nachdem wir mit Kissen eine Burg gebaut haben. Ich kann sogar die Lachfältchen nachzeichnen, die sich stets rechts und links gebildet haben, wenn mein Papa breit gegrinst hat. Das Funkeln in seinen Augen, wenn er mich stolz angeblickt hat, habe ich bis heute noch nicht vergessen. Häufig kann ich nachts schlecht schlafen, weil ich dann mit meinen Gedanken bei ihm bin.

Obwohl ich mich innerlich so leer fühle, mache ich weiter. Ich mache das, was von mir erwartet wird. Ich kaufe ein, wenn mich meine Mutter darum bittet. Jeden Tag gehe ich zur Schule, mache beim Unterricht mit und schreibe meine Klausuren. Jeden verdammten Tag mache ich brav meine Hausaufgaben und bringe gute Noten mit nach Hause. Alle denken, dass es Lilly Schilling gut geht. Doch das ist nicht wahr. Denn ich lebe nicht wirklich, ich funktioniere. Dass keiner dies zu bemerken scheint, liegt daran, dass ich nun mal sehr gut darin bin, meine echten Gefühle zu verstecken.

***

Ein neues Schuljahr steht an, das bedeutet, dass ich ab heute die 9. Klasse besuche. Ich stehe vor dem großen weißen Schulgebäude und hoffe, dass ich den Tag überstehen werde. Mein Blick fällt auf Noah Baumgartner, der sich hinter mir mit seinen Freunden zur Begrüßung abklatscht. Alle lachen und scheinen sich zu freuen, nach 6 Wochen Ferien sich endlich wiederzusehen. Bei diesem Anblick macht sich ein Kloß in meinem Hals breit. Ich habe in der Schule keine Freunde, die mich in den Arm nehmen und mir von ihrem Sommer erzählen. Mittlerweile habe ich akzeptiert, dass ich unbeliebt bin und keiner mit mir so wirklich etwas zu tun haben möchte. Ich bin eine Einzelgängerin, daran habe ich mich gewöhnt.

Muss das schön sein, jemand wie Noah zu sein, denke ich mir. Es findet keine Party statt, zu der er nicht eingeladen wird. Die Leute jubeln, wenn er für unsere Basketballmannschaft einen weiteren Korb erzielt. Er ist der Mädchenschwarm schlechthin, er wird praktisch wie ein Wanderpokal hin und hergereicht. Dass er gut aussieht, muss er bestimmt schon tausende von Malen gehört haben. Auch ich muss zugeben, dass sein Anblick durchaus etwas hergibt. Eisblaue Augen und dunkelblonde Locken sind nun mal äußerst attraktiv. Das einzige, was man ihm als negativen Punkt vorwerfen könnte, wäre, dass Noah nicht so gut in der Schule ist.

Aber ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass er den Stoff nicht versteht oder nicht die nötige Intelligenz besitzt. Wenn er zum Beispiel zum Vorrechnen an die Tafel gerufen wird, kann er meistens eigentlich ziemlich gut, die vorgegebenen Gleichungen lösen. Ich glaube, er strengt sich einfach nicht genügend an, wahrscheinlich ist ihm Schule komplett egal. Noah macht nie die Hausaufgaben und scheint so gut wie kaum für Arbeiten zu lernen. Er beteiligt sich nicht am Unterricht und passt nicht auf, wenn der Lehrer etwas erklärt. Wenn ich seine Noten haben würde, hätte meine Mutter mich bestimmt auf die Straße gesetzt. So wie es aussieht, scheint es Noahs Eltern nicht zu stören, die müssen also ziemlich cool drauf sein. Wenn ich mit jemanden mein Leben tauschen könnte, wäre es dementsprechend vermutlich mit Noah Baumgartner.

Als ich im Schulgebäude bin, laufe ich den Korridor entlang, um meine Bücher in meinen Spind einzuräumen. Ich weiß nicht, was sich unsere Lehrer dabei gedacht haben, uns Schüler so schwere Schulranzen mit nach Hause schleppen zu lassen. Ein paar Bücher weniger fände ich schon äußerst toll. Ein kurzer Blick auf den Stundenplan sagt mir, dass wir in den ersten beiden Stunden Geschichte haben. Ich packe meine benötigten Unterlangen in meine Tasche und schlendere Richtung Klassenzimmer. Plötzlich passiert es. Gemeinsam mit einer anderen Person lande ich unsanft auf dem Boden, weil wir beide nicht aufgepasst haben. Ich stelle fest, dass die andere Person, die mit mir gestützt ist, einer von Noahs zwei besten Freunden ist. Er heißt Louis und er blickt mich gerade sehr wütend an.

,,Pass doch auf, Lilly!'', zischt er mich an.

,,Es ... tut mir leid ... ich wollte ... das nicht'', entschuldige ich mich stotternd bei ihm.

Mein Mund ist trocken, meine Hände schwitzen und mein Magen fühlt sich flau an. Er hat mir schon mehrmals durch Kommentare klar gemacht, dass er mich nicht besonders leiden kann. Und weil ich Angst habe, dass es zu einer Szene kommt, ist es besser, ihn für meinen Fehler um Entschuldigung zu bitten.

,,Lern erst einmal richtig sprechen. Dein Gestotter kann sich doch kein Mensch anhören'', macht er sich über mich lustig.

Obwohl es mich verletzen sollte, tut es das nicht. Das ist nicht das erste Mal, dass ich mir so etwas anhören muss. So gern ich es auch ändern würde, ich kann es nicht. Wenn ich mich an einem Ort oder in einer Situation total unwohl fühle, fange ich irgendwann an zu stottern. Das hat an dieser Schule schon für etliches Gelächter gesorgt. Aus diesem Grund fällt es mir besonders schwer Referate vor der Klasse zu halten. Ich bin stets froh, wenn ich drumherum komme.

,,Ich ...'', fange ich einen Satz an, doch weiß nicht so wirklich, was ich darauf antworten soll.

Es ist besser, dass ich den Mund halte, anstatt noch einen weiteren dahin gestotterten Satz von mir zu geben ...

,,Sie hat sich bei dir entschuldigt, Louis. Das reicht doch schon'', mischt sich eine Stimme hinter uns in unser Gespräch ein.

Ich muss mich nicht umdrehen, weil ich diese Stimme auch so zuordnen kann. Es ist Noah. Unsere Augen treffen sich, als ich hoch in sein Gesicht blicke. Normalerweise kann man Gefühle und Emotionen bei Personen in den Augen sehr deutlich lesen. Bei Noah geht es jedoch nicht. Seine Augen sind kalt, fast schon gefühllos und zeigen nicht einen einzigen Hauch von Wärme. Es ist seltsam, aber wenn wir beide eine Gemeinsamkeit haben, ist es naheliegend, dass wir beide den anderen nicht zeigen, was wir in Wirklichkeit fühlen. Er scheint genauso wie ich sich eine Maske in Form eines Pokerfaces aufgesetzt zu haben, ob er das ebenfalls bei sich zuhause tut, kann ich nicht sagen.

,,Nochmals Glück gehabt. Das nächste Mal bin ich nicht so freundlich dir gegenüber'', murmelt Louis zu mir und stellt sich zu seinem besten Freund.

Erleichtert sehe ich, wie die beiden in die entgegengesetzte Richtung tappen. Im Augenwinkel bekomme ich noch mit, wie Noah sich noch kurz umdreht und mich anschaut. Ich versuche ihm mit meinem Blick ein stummes Dankeschön mitzuteilen.

𝐃𝐮 𝐛𝐢𝐬𝐭 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐚𝐥𝐥𝐞𝐢𝐧! ✔️Where stories live. Discover now