Ragnar

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Das Tal wurde immer kleiner und Alina verlor jedes Zeitgefühl. Da jedoch die Sonne kurz davor war, hinter dem Gebirge zu verschwinden, mussten zumindest einige Stunden vergangen sein, seitdem sie Remy alleine gelassen hatte.

Die Wölfe meldeten sich regelmäßig, doch sie wusste nicht, woher das Geheul überhaupt herkam. Das Echo des Geheules verteilte sich im Tal und dem Gebirge und war beeindruckend und furchteinflößend gleichermaßen. Ihre Beine schmerzten und vom Hasen am Abend zuvor konnte der Körper auch nicht mehr zehren. Lediglich ein paar Beeren an den wenigen Sträuchern, die an den Felswänden tapfer den Witterungen und der Höhe trotzten, konnte sie aufsammeln. Ob sie den Verzehr der Beeren später mit Magenscherzen bereuen würde,  war ihr in diesen Momenten unwichtig.

Ein inneres Gefühl trieb sie weiter an. Ein Gefühl, dass sie es irgendwie hier hoch schaffen müsste. Als ob am Ende des Aufstiegs etwas auf sie warten würde.

Jede Stufe fühlte sich schwerer an, als die vorherige. Alina war durchaus sportlich und hatte Übung im Zurücklegen von Strecken. Immerhin mussten alle Schüler der Kristallakademie damals selbst zu den östlichen Minen laufen, um ihre Kristalle abzuholen. Ihr Meister hatte jeden erzählt, dass die Menschen hart arbeiten mussten, um die Kristalle tief aus den Bergen zu holen. Jeder Bändiger und jede Bändigerin müsste demnach auch etwas tun, um die Kristalle nutzen zu dürfen. "Geteiltes Leid ist halbes Leid", murmelte Alina vor sich hin und dachte dabei wieder an Remy. "Wie es ihm wohl gerade geht?".

In der Schlucht hatte Remy es so gerade geschafft, den Ork zurückzuschlagen. Er konnte mehrmals zu stechen, bis dieser blutete. Zum Glück war die Kreatur zu groß für den Spalt, allerdings gab es ein neues Problem. Remy hatte zwar Alina einen ordentlichen Vorsprung gegeben und auch er hätte längst ebenfalls sich aufmachen können, den Berg zu besteigen. Allerdings schien es neben dem eigenen König, der sein Reich auseinander nahm, weil Nutzer der Kristallmagie angeblich eine Gefahr darstellten, noch einen neuen Feind zu geben. Nachdem der eine Ork sich zurückzog, marschierte eine ganze Horde an weiteren Kreaturen durch die Schlucht in Richtung Tal.  Darunter waren nicht nur Orks, sondern auch Ghule. Lebewesen, die die Körperform eines dürren Menschen sowie eine blaue Haut und lange Krallen besaßen.

Remy war zwar stark und konnte rennen, doch gegen die Ghule, die eben auch durch diesen Spalt passten, hatte er keine Chance. Zwei von ihnen schmissen sich auf ihm und banden seine Hände und Füße fest. Im nächsten Moment fand er sich auf einem Karren wieder, der von zwei dunklen Pferden mit einer Mähne aus Flammen gezogen wurde. Um ihn herum schaute er in die hungrigen Fratzen der Orks. Er fluchte vor sich hin und malte sich schon aus, wie er als eine Art Braten über ein großes Lagerfeuer gegrillt würde. Proviant für die Soldaten, mehr war er also für sie nicht.

Währenddessen bestieg Alina weiter den Berg, während der Weg allerdings nicht mehr auf der Seite des Tals, sondern auf der Gebirgsseite verlief. So verpasste sie den Einmarsch der feindlichen Armee in das Tal und ihren gefangenen Kollegen. Doch dafür ergab sich ein ganz anderer Anblick. Vor ihr, nicht viel weiter höher als sie es war, befand sich eine Art Tempel auf einem Plateau. Der Bau schien nach hinten in den Berg gehauen worden zu sein, während der vordere Teil herausragte.

Der Gipfel, der vor ihr lag, war der zweite von den sieben Schwestern, wenn man vom Tal ausgesehen im Uhrzeigersinn alle durchgehen würde. Dementsprechend wäre das die "Ivana". Doch als sie interessiert im Buch nachblätterte, ob es einen Eintrag über einen Tempel oder dergleichen gab, fand sie kein einziges Wort darüber. Je näher sie sich der Anlage näherte, desto größer schien diese auf Alina zu wirken. Einige Säulen standen in Reih und Glied um den Weg herum kurz vor dem Eingang.

Oben am Gebäude angekommen, stand sie vor einem riesigen Tor. Sollte sie jetzt einfach mal anklopfen? Oder laut schreien, ob jemand zu Hause sei? Sie begann sich umzuschauen. Vielleicht gab es ja eine Art Vorrichtung zum Öffnen des Tores, dachte Alina sich. Dann bemerkte sie an der rechten Säule einige Meter vor dem Eingang eine Öffnung. Sie inspizierte die Stelle in der Säule und war von den Maßen überrascht. Von der Größe her könnte ziemlich gut ihr Kristall hineinpassen. "Warum auch nicht" dachte sie sich und platzierte den Kristall in die Säule. Gerade war das Objekt platziert, schimmerte es um diesen Kristall herum blau und er begann da drin zu schweben. Eine Art magische Energie hielt ihn in der Fassung. Dann schoss ein blauer Strahl nach oben aus der Säule heraus.

Als Alina sich umdrehte, hoffte sie, damit das Tor geöffnet zu haben. Doch zu ihrer Enttäuschung war es immer noch geschlossen. Sie rannte hinüber zur linken Säule und fand dieselbe Öffnung auch in dieser. Scheinbar fehlte ihr noch ein Kristall. "So ein Mist. Woher bekomme ich jetzt noch so einen Kristall? Ich kann schlecht zu unseren Minen laufen, da wäre ich bestimmt eine Woche, wenn nicht sogar noch länger, unterwegs."

Sie war verzweifelt, sie hatte Hunger, sie hatte Schmerzen. Dann setzte Alina sich auf einen großen Stein in der Nähe der noch nicht aktivierten Säule hin und schaute auf das Gebirge. Ein imposanter Anblick auf die unzähligen Berge. Es bildete die Grenze der Menschenwelt, dahinter lag das verbotene Land als neutrale Pufferzone zu Ogrimar, der Heimat von Kreaturen wie dem Ork aus der Schlucht.

"Hier bist du also!", rief eine tiefe Stimme aus weiter Ferne. Alina drehte sich um und sah jemanden den Weg hoch schreiten, den sie noch vor einigen Minuten bewältigt hatte. Ihr erster Gedanke, dass Remy es doch noch geschafft hatte, verflog genauso schnell, wie der ihr noch unbekannte Mann so plötzlich auftauchte.

Ein großer, etwas jüngerer Mann mit einem Pelzmantel, welcher mit einem braunen Gurt um den Bauch befestigt war, baute sich vor ihr auf. Mit seinem Bart und einer blauen Kriegsbemalung wirkte der Unbekannte wie ein Wikinger. Ihm fehlten auf seinem Helm nur noch zwei Hörner. "Ich bin Ragnar von Uradium und bin gekommen, um dir, ich meine, um unserem Volk zu helfen." Alina schaute irritiert, als dieser einen Kristall aus seinem Beutel holte, den er hinter seinem Rücken trug. "Ich glaube, du brauchst einen zweiten, richtig?"

"Ich bin Alina aus Zweifluss. Du siehst nicht wirklich nach einem Kristallbändiger aus, aber ich muss das Rätsel lösen. Also, ja ich bräuchte noch einen Zweiten, der müsste in die linke Säule dort eingelassen werden, um das große Tor zu öffnen", sprach sie, während sie mit dem linken Daumen nach hinten zeigte.

"Das Rätsel ist schon gelöst. Du hättest einfach unten an deiner Hütte warten müssen, bis das Wolfsgeheul zu Ende gegangen wäre. Dann hättest du kurz darauf den ersten blauen Strahl am Gipfel gesehen, der dir gezeigt hätte, wo der richtige Weg zum Reich wäre.".

"Das Wolfsgeheul bezieht sich auf die Ohren und dass ich mehr als zwei davon bräuchte, sprich, eine weitere Person, das hatte ich verstanden. Meinen Augen sollte ich nicht trauen, weil der Weg durch die Schlucht mich vielleicht auf die falsche Fährte geführt hätte. Aber warum sollte die Naturgöttin Boona auf mich warten?"

Ragnar lachte: "Jeder Gottheit wird eine Farbe zugeteilt. Für Boona, also die Farbe der Natur, wenn man so will, wäre hier Blau."

Damit war das Rätsel gelöst, aber Alina fragte sich dennoch etwas: "Wenn du vorhin an meiner Hütte warst, wo sind denn deine Kollegen? Ich konnte euch von oben herab nämlich beobachten und dachte, ihr seit von der königlichen Garde. Allerdings siehst du mir nicht nach einer von denen aus."

Wieder musste der Mann lachen. "Nein, da hast du recht. Ich gehöre nicht der königlichen Garde an. Allerdings wird die Bezahlung, die auf mich wartet, wenn ich dich fasse und zurückbringe, definitiv königlich ausfallen". Alina riss die Augen auf und spürte Panik aufkommen, als auf einmal mehrere Hände sie an ihre Schulter packten und nach hinten zerrten. Sie schrie, trampelte mit den Füßen und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Doch es half alles nichts. Einige Männer kamen aus einer Ecke hinter dem Tempel hervor und packten sie in einen großen Sack, der anschließend gebunden wurde.

Ragnar ging derweil zur linken Säule, stellte den Kristall in die Fassung hinein und beobachtete, wie der zweite Strahl in den Himmel schoss. Dann ging hinter ihm das große Tor auf.

"Dann schauen wir doch mal, was es mit dem Reich der Wölfe so auf sich hat." Er grinste, packte seine Axt aus und marschierte mit einigen gut ausgerüsteten Männern auf das Tor zu.

Das Reich der WölfeWhere stories live. Discover now