Wolfsgeheul

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"Wir sind noch nicht im Reich angekommen, oder?", fragte Remy. Alina schüttelte den Kopf, steckte den Kristall in die Tasche, nahm das Schwert hinaus und begann, loszulaufen. Auch Remy, mit festem Griff um die Beute, erhöhte sein Schritttempo so weit er konnte. Aus dem Westen näherte sich ein Rudel von etwa einem dutzend Tiere. Sie schienen ebenfalls hungrig zu sein und Hasenfleisch stand wohl ausnahmsweise nicht auf ihrer heutigen Speisekarte.

Beide rannten und waren wohl von sich selbst überrascht, welche Auswirkung Adrenalin auf den Körper hatte, auch wenn er ziemlich geschwächt seien müsste. Doch die Wölfe waren nun mittlerweile wenige hundert Meter hinter ihnen.

Die rettende Hütte kam bereits ein bedeutendes Stück näher, als Alina stolperte. Dabei fiel der Kristall aus der Tasche heraus. Remy zog sie hoch und schubste sie nach vorne: "Lass das Schwert fallen und renn weiter! Ich halte sie auf!" "Aber..", doch Alina bekam keine Wörter mehr heraus, als die das Rudel sah und folgte in Panik der Anweisung.

Remy nahm den Kristall an sich, ebenso wie sein geliebtes Schwert. Er drehte sich um und fühlte sich indessen selbst wie die Beute. Der erste Wolf erreichte ihn und er schwang seine Waffe gezielt zum Kopf des hungrigen Feindes. Er war noch nicht komplett außer Übung, den ersten hatte er gleich mit einem Schlag erledigt. Doch er war inzwischen umzingelt und außer wild mit dem Schwert durch die Luft zu wirbeln und zu hoffen, dass er zufällig einen Treffer landete, war in dieser Situation nicht drin.

Den Kristall einsetzen konnte er jedenfalls nicht. Vielleicht hätte er Alina doch nicht wegschicken sollen, auch wenn das Risiko nahe eines Selbstmordkommandos kam. Doch jetzt war es ohnehin zu spät. Die Kraft im Arm ließ langsam nach, als zumindest ein zweiter Wolf sichtlich verletzt zu Boden ging. "Lange halte ich das nicht mehr durch!"

"Wirf den Kristall zu mir rüber!"Sie ist doch zurückgekehrt. Remy dachte bereits daran, dass sie ihm seinem Schicksal überlassen hätte. Ihm blieb keine andere Wahl und ging das Risiko ein. Mit den Augen weiter auf die nicht nachlassenden Massen an zubeißenden Zähnen fokussiert, warf er den Kristall so gut es geht hinter sich. Alina fing tatsächlich das Objekt auf und begann, wieder ihre Hand aufzulegen, bis dieser wieder blau zu pulsieren begann. Mit einer gewaltigen Druckwelle schleuderten sowohl die Wölfe als auch Remy durch die Gegend und landeten mehrere Meter weiter weg im Schnee kurz vor einem Felsbrocken.

"Das war aber knapp!", schrie Remy noch als Alina mit einer Hand durch herumfuchtelte. "Aus dem Weg!  Weg da!", rief sie hinterher.  Dieser konnte gerade aufstehen und musste erneut zum Sprung ansetzen. "Hätte ich doch bloß mehr Sport getrieben" ärgerte sich Remy und schmiss sich weg.

Kaum durfte er erneut gefrorenes Wasser im Mund schmecken, ließ Alina wieder ihre Schleim-Attacke los. Diesmal traf es das Wolfsrudel so, dass nur ihre Füße feststeckten. Die darauffolgenden Sekunden verwandelte sich die Frau in ein junges Mädchen, das gerade ihre Abschlussprüfung bestanden hatte. Alina sprang im Schnee umher und jubelte ausgelassen.

Währenddessen stöhnte Remy beim Aufstehen, nickte der überglücklichen Bändigerin zu und machte sich auf, den Wölfen den letzten Rest zu geben. Alina beruhigte sich und ging auf ihn zu. "Ich glaube, wir sollten sie am Leben lassen", meinte sie. "Wir wollen doch die Hilfe der Wölfe. Sollten die Anführer im Reich mitbekommen, was wir getan haben, könnten wir unsere Reise auch gleich absagen."

Remy steckte das Schwert in die Halterung hinter seinem Rücken, welche im Pelz eingearbeitet war. "Das kann gut sein, aber tot können wir ebenfalls schlecht unsere Mission erfüllen. Also was machen wir dann mit ihnen?"

Alina überlegte kurz, dann fiel ihr etwas ein: "Wir lassen sie im Schleim. Dieser löst sich innerhalb eines Tages auf. Bis dahin müssen wir verschwunden sein. Solange dürften sie durchhalten. Unsere beiden kleinen Hasen können wir kaum mit ihnen teilen".

Sie gingen zurück, sammelten auf dem Weg noch ihre Beute ein und befanden sich kurz darauf wieder in der Hütte. "Soll ich wieder runter in den Keller oder darf ich oben bleiben?", fragte der erschöpfte Mann halb im Scherz und setzte sich auf einen Stuhl. "Alles gut. Ich glaube, wenn du mich umbringen wolltest, dann hättest du das vorhin auf dem Weg längst getan. Tut mir leid für die harte Nacht unten bei der Leiche", entschuldigte sich Alina verlegen.

"Weißt du, in den letzten Wochen wollten so einige Männer mich umbringen. Nur, weil der König vor den ganzen Ereignissen einen Traum hatte. Oder wie er es nannte, eine Vision! Als würden wir Kristallbändiger irgendwann die Macht an uns reißen wollen. Seit wir existieren, ist es unsere Aufgabe, den Leuten zu helfen. Dass überhaupt Angriffstechniken existieren, ist doch nur den Drohungen des Königs zu verdanken. Davor hatten wir nicht einmal daran gedacht, jemanden zu verletzten." Alina wurde emotional und brach in Tränen aus und fuhr mit gebrochener Stimme fort.

"Ich vermisse meine Familie. Mein Zuhause existiert nicht mehr. Mein Dorf brannte die ganze Nacht über. Ich höre immer noch die Schreie in meinem Kopf. Die armen Menschen dort, ich habe sie alle im Stich gelassen. Stattdessen hocke ich hier in irgendeiner verlassenen Hütte, mitten im Nirgendwo. Und ich habe keine Ahnung, wohin ich gehen muss."

Remy sah, wie sie anfing, zu zittern. Diesmal war aber nicht die Kälte die Ursache. Er saß sich neben ihr und legte einen Arm um ihre Schulter. Alina wiederum lehnte sich mit ihrem Kopf an seinem noch dreckigen, leicht schleimigen Mantel. Dann brachen bei Ihr alle Dämme.

Nach ein paar Minuten hatte sie sich wieder beruhigt. Remy nutzte diese Chance. Er war kein Mann der großen Gefühle, es reichte aber, um seine damalige Truppe zu erreichen.

"Ich denke, wir teilen da ein Schicksal miteinander. Meine Mutter starb schon früh, kurz nach meiner Geburt. Daher hatte mein Vater mich großgezogen und mir alles im Leben gezeigt. Wie man Waffen herstellt, mit ihnen kämpfen kann. Wie man erfolgreich auf Jagd geht oder eine Gilde anführt. Ohne ihn wäre ich bei den Waisenkindern in der Hauptstadt gelandet. Im schlimmsten Falle wäre ich also tatsächlich einer derjenigen, die dich hätte verfolgen müssen. Aber so weit kam es ja nicht."

Remy musste kurz schlucken. "Mein Vater wurde übrigens vor dem Ratsgebäude aufgehängt, weil er nicht damit rausrücken wollte, wo sich unsere Bändiger befanden. Daraufhin ließ auch hier Perisek's Garde das Feuer sprechen. Wir als Gilde hatten nicht viel auszurichten. Natürlich waren meine Mitstreiter sauer, als ich mich auf die Reise begeben wollte. Ich habe ja ihnen immer gelehrt, bis zum letzten Atemzug die Bürger zu beschützen. Hoffentlich werden sie es eines Tages verstehen. Falls sie überhaupt noch leben, wohlgemerkt." 

Einige Minuten vergingen, dann machte sich Remy auf zu Tür. Ihm ist noch eingefallen, dass Holz im Kamin fehlte. Das Essen konnte man kaum roh verzehren. Alina blickte derweil gedankenverloren aus dem Fenster.

Die Tannen kann er schlecht fällen, dachte Remy sich, während er diese inspizierend betrachtete und erneut mit der Hand durch seinen Bart ging. Weder hatte er eine Axt gesehen, noch wäre es eine gute Idee, der Hütte diese Tarnmöglichkeit zu nehmen.

Er machte sich also auf zum nächstgelegen Wald und hielt die Augen offen. Vielleicht gab es hier kleine Tannen oder Gestrüpp, die er mit dem Schwert klein hauen konnte. Tatsächlich konnte er so nach und nach genug Brennmaterial zusammen bekommen, auch wenn sein Schwert darunter leiden musste.. Hätte er das vorher gewusst, hätte er gleich von Zuhause aus eine Axt mitnehmen können. Immerhin kann diese sowohl Bäume als auch Feinde fällen.

Die Sonne begann, langsam wieder zu verschwinden. Der Wind nahm ebenfalls zu, allerdings war das Tal von Neuschnee verschont geblieben. Die Sonnenstrahlen wanderten zur Hütte. Remy bemerkte, wie Alina draußen um das Haus herum im Schnee wühlte. Scheinbar war sie auf der Suche nach etwas.

Wieder am Zaun angekommen, fragte Remy, was Alina da vorhatte. "Vor einigen Tagen habe ich hier im Tal Kräuter entdeckt, sie winterfest scheinen.  Unter der Schneedecke konnte ich bereits einige sammeln,  damit unser Essen nicht so langweilig schmeckt."

"Oh, eine Feinschmeckerin. Jetzt bekomme ich erst Recht Hunger. Dann lass uns mal loslegen". Während Remy mit der Reibe-Technik ein Feuer entzünden konnte, präparierte Alina die beiden Hasen. Später saßen beide am Tisch und genossen ihre erste warme Mahlzeit seit Tagen.



Das Reich der WölfeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt