Der Höllenkater

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„Echt der Hammer, dass du meine Schicht übernehmen willst, ich hab einen Höllenkater", freute sich Daniel, mein Kollege im Kangarooby. Komischer Name, ich weiß. Unser Chef mochte die Farbe Rot und ... Kängurus. Und Studenten, die sich mit einem Knochenlohn zufrieden gaben. Nur jemand mit sehr wenig Fantasie würde sich so einen Namen ausdenken, eine uninspirierte Pulp-Autorin etwa.
Ich schmunzelte. „Kenn ich."
Dan runzelte die Stirn, während wir gemeinsam in den Aufenthaltsraum runter gingen. Vom Gästebereich führten ein paar Treppenstufen in den hinteren Gebäudeteil im Souterrain. Ein schwerer, muffiger Samtvorhang versteckte die hässliche Seite der Bar vor den Gästen. „Du trinkst doch gar nicht mehr." Er trat an seinen Spind und schloss auf. An der Decke surrte eine Leuchtröhre und hinter den flachen Kellerfenstern schwirrten Insekten in der Hitze. So schick das Kangarooby vorne aussehen mochte, so ranzig war es hinten. Auf dem Boden versammelte sich eine Armada an Flecken und es roch nach abgestandenem Bier. Gestrichen hatte der Chef  auch schon länger nicht mehr. Er trug den wohlklingenden Namen Grenouille, wie der Typ aus Das Parfum. Der Gestank im Personalbereich bewies aber, dass er eine deutlich schlechtere Nase besaß als der Romanprotagonist. Allerdings war er ähnlich schräg drauf und ich hielt es nicht für unwahrscheinlich, dass er eines Tages auch gefressen wurde. Sorry für den Spoiler.
Dan schaute mich abwartend an und mir fiel ein, dass wir uns in einem Gespräch befanden. Ach ja. Mein Trinkverhalten. Ertappt fuhr ich mir durch das windzerzauste Haar. „Ich meinte auch keinen Alkohol." Schon vor meiner Entführungsparty hatte ich wenig getrunken und gefeiert, aber danach hatte ich es komplett aufgegeben. Noch ein mal so ein Erlebnis? Auf keinen Fall.
Er grinste und verpasste mir einen Knuff in die Seite. „Muskelkater ist nicht das Gleiche, du Adrenalinjunkie."
Dein Kollege ist ein Vollidiot, kommentierte Dreckstück.
Er ist kein schlechter Kerl, verteidigte ich ihn. Und was soll er sonst glauben? Dass ich Ecstasy meine?
Das würde zumindest ein bisschen mehr Spaß bedeuten, beschwerte sich mein Parasit.
Ohne einen Funken Schamgefühl zog sich Daniel vor mir sein Arbeitsshirt mit unserem Logo, einem Känguru, das mit zwei Shotgläsern in den Pfoten boxte, aus. Wobei das nicht verwunderlich war, unser Chef ließ uns bei diversen Veranstaltungen auch knapp bekleidet ausschenken.
„Bisher ist auch noch fast nichts los, ist ja erst Nachmittag. Also ganz entspannt", informierte er mich. Ich nickte und schloss ebenfalls meinen Spind auf, um mir meine Arbeitskleidung rauszunehmen und meinen Rucksack einzuschließen.
„Hey sag mal", begann er, während er sich ein ärmelloses Stricktop mit Rollkragen anzog. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst in letzter Zeit ganz schön fertig aus."
Ich stieß hörbar die Luft aus und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Er war wirklich ein guter Kerl. „Alles in Ordnung. Ich hab nur ein bisschen Stress in der Uni und so", log ich. Dank meines angeblichen Urlaubssemesters hatte mich dort seit drei Wochen niemand mehr gesehen. Die neugewonnene Freizeit nutzte ich für mein Kampfsport-Training - immerhin wollte ich auf ein erneutes Zusammentreffen mit meinen Kidnappern vorbereitet sein - und damit, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, warum genau sie mich so dringend wieder einfangen wollten.
Okay, ich hatte anscheinend einen Schatten aus einem magischen Schwert aufgesaugt. Und dann hatten sie versucht, das Ding wieder aus mir rauszuholen. Aber das war nicht alles. Meine Gedanken drifteten wieder ab.
Falls ihr an der Stelle eine erneute Rückblende erwartet habt, muss ich euch leider enttäuschen. Tatsächlich konnte ich mich an alles, was nach dem Auftauchen von Harus Komplizen geschah, kaum mehr erinnern. Es war, als hätte jemand einen starken Weichzeichner über die Eindrücke gelegt. Da waren zwei Stimmen, eine Frau, ein Mann. Und sehr viel Licht, ein weiteres Schwert. Aber immer, wenn ich versuchte, mich zu erinnern, ergriff eine fürchterliche Kälte von mir Besitz. Wer auch immer diese Leute waren, sie hatten mir meine Erinnerung genommen und nicht nur das. Auch meine Emotionen waren seitdem gedämpft. Oder hatte ich einfach nur Angst, mich zu erinnern?
Alternativ ging es doch um diese horrende Porno-Rechnung meines kleinen Bruders und diese Typen waren einfach nur ein total schräger Haufen Geldeintreiber.
„Hallo, Erde an Bo", machte Dan sich bemerkbar. Ich blinzelte. „Sorry. Ja, es ist wirklich alles in Ordnung", bekräftigte ich. Er musterte mich mit skeptischem Gesichtsausdruck, dann klopfte er mir jedoch auf die Schulter. „ Okay. Ich hau dann mal ab. Du kommst klar?" Erneut nickte ich und bevor er aus der Tür raus war, rief er noch: „Und vergiss nicht, dich einzutragen!"
Fünf Minuten später stellte ich mich hinter die Bar und begann, Gläser abzuwaschen. Aus den Lautsprechern schmetterten Derek and the Dominos Layla, in der Fassung einer meiner Lieblingssongs, und ich drehte die Musik lauter. Wäre ich mir nicht so sicher gewesen, dass meine Verfolgung mit den Schatten zusammenhing, hätte ich vermutlich gedacht, dass ich jemanden verärgert hatte und deswegen gejagt wurde. Eigentlich war das trotzdem noch die wahrscheinlichste Möglichkeit, so oft, wie ich irgendwem auf die Füße trat. Meist, um die Menschen um mich herum zu schützen. Aber es war so zur Gewohnheit geworden, dass ich es mittlerweile oft automatisch tat. Selbst, wenn es nicht meine Absicht war. Ich seufzte. Dan hatte nicht untertrieben, fast alle Plätze waren leer. Nur an einem Tisch saß eine Frau Mitte 40, die eigentlich zu elegant für dieses Etablissement aussah. Sie trug einen dunklen Pelzmantel über einem schwarzen Kostüm, hoch gestecktes glänzend schwarzes Haar und kleine goldene Creolen. Um ihr Handgelenk schmiegte sich eine filigrane Uhr und dieser überteuerte Armreif von Tiffanys, den eine Zeitlang alle Modebloggerinnen getragen hatten. Ihre Augen versteckte sie hinter einer großen Sonnenbrille, obwohl unsere Fenster verdunkelt waren. In eine Sitzecke mit blutroten Polstern gelehnt, nippte sie ab und an mal an einem White Russian. Das einzige Accessoire, was sie sich nicht selbst auferlegt hatte, war der schwere Schatten, der sich in ihre Schultern krallte. Sein hässliches Köpfchen mit leeren Kohleaugen, die immer wieder verschwammen, und einem gierigen Loch, dort, wo der Mund hätte sein können, lugten hinter ihrem Rücken hervor. Mehrere dunkle Schwaden zogen unentwegt von der Kundin auf und der Schatten wirbelte vor, um sein Fressloch über den Strom zu stülpen.
Ich verzog den Mund. „Geh doch besser zu der da drüben. Die scheint einen richtig schlechten Tag zu haben", murmelte ich vor mich hin. „You've been running and hiding much too long", sang Eric Clapton und bei dem Text wurde mir mulmig.
Niemand in diesem Raum ist so wertvoll wie du, Bo.
Trocken lachte ich auf. Zum Glück hörte mich die Fremde nicht, sie war völlig in Gedanken versunken. Die rot bemalten Lippen hatte sie verzogen, sodass ihr Gesichtsausdruck verkniffen wirkte.
Warum bin ich so wichtig für dich?, fragte ich.
Aus dem gleichen Grund, warum du diese drei Wichser am Arsch kleben hast.
Meine Hand hörte auf, den Schwamm in das Whiskeyglas zu stopfen. Dass mich ein Schatten besetzt hatte, war nicht das erste Mal. Deshalb war ich davon ausgegangen, dass es einfach in ihrer Natur lag, in Menschen eindringen zu wollen. Dass mich drei Durchgeknallte erst kidnappten, ein satanisches Ritual an mir durchführten (das mich anscheinend so traumatisiert hatte, dass ich mich nicht mehr an die Einzelheiten erinnerte), mich dann drei Wochen lang verfolgten und ich unsterblich wurde, das war allerdings neu.
Erzähl mir alles, was du weißt!, forderte ich.
Der Schatten schien amüsiert. Sieh dich um. Wie viele von meiner Sorte siehst du?
Stirnrunzelnd betrachtete ich die dunklen Ecken hinter unserer schwarzen Marmorbar, wo unter dem Glasregal ein kleiner Schatten in der Ecke zitterte. Als ich mich hinabbeugte, verkroch er sich in den Ritzen und verpuffte. Ich sah wieder auf. Hinter dem Hirschkopf, der von rotem Neonlicht beleuchtet wurde, kribbelte es in der Dunkelheit. Unter einem rot lackierten Tisch bewegte sich ein Schatten, der schnell über die schwarzen Fliesen huschte, als ich ihn entdeckte.
Es sind weniger als in den letzten drei Wochen, aber mehr als davor, stellte ich fest. Mein Begleiter flüsterte in meinem Kopf: Hast du dich je gefragt, was Schatten sind?
Natürlich hatte ich das. Unzählige Male. Aber diese Wesen begleiteten mich bereits, seit ich denken konnte. Und nicht nur das. Früher waren da nicht nur Schatten, sondern auch Lichter gewesen. Aber je älter ich geworden war, desto seltener hatte ich sie gesehen.
Irgendwann dachte ich einfach, dass es normal wäre, dass ich sie bemerke und die anderen Menschen nicht, erklärte ich. Als Kind dachte ich, dass ich eine Auserwählte bin oder sowas. Ich lachte leise.
Auserwählte ist vielleicht etwas hochgegriffen, erwiderte Dreckstück. Aber in der Tat kann nur eine verschwindend geringe Anzahl an Menschen bereits vor seinem Tod Lichter und Schatten in ihrer wahren Form erkennen. Nur, wenn eine Seele im perfekten Gleichgewicht ist, ist es möglich, beides bereits zu Lebzeiten zu sehen.
Meine Seele im perfekten Gleichgewicht? Dass ich nicht lache. Es klingelte, als zwei Männer die Bar betraten. „Hast du sein Gesicht gesehen, als er gefeuert wurde?", fragte der eine, ein grobschlächtiger Kerl Anfang 50 im Anzug, seinen Kollegen. „Make the best of the situation", trällerte Clapton und ich verzog den Mund. Na danke, wie aufbauend, Eric.
„Er sah aus, als wollte er den Chef erwürgen!", antwortete der andere, ein schmaler Mann Mitte 40 mit zurück gegelten Haaren. Sie setzten sich an die Bar und schauten mich abwartend an.
Innerlich verdrehte ich die Augen. Na klar, alle Plätze sind frei und ihr setzt euch ausgerechnet hierhin.
„Was darf's sein Leute?", fragte ich und setzte ein schmales Lächeln auf. „Oder wollt ihr erstmal die Karte angucken?"
„Ich nehme einen Long Island Ice Tea", bestellte der Große und sein Freund lachte. „Es ist halb Fünf, wollen wir nicht erstmal entspannt anfangen?"
„Es ist Feierabend, was soll ich noch warten? Man muss seine verbleibende Zeit nutzen!" Er grinste mich an und wackelte mit den Augenbrauen. Hinter ihm braute sich etwas Dunkles auf dem Fliesenboden zusammen. Dreckstück gluckste amüsiert. Paarungswillige Menschen sind wie ein Unfall, kommentierte er. „Layla, you got me on my knees, Layla, I'm begging, darling please", bestätigten Derek and the Dominos.
Du meinst paarungswillige Männer, korrigierte ich.
„Kannst du haben. Und für dich?", wandte ich mich an den zweiten Typen, der etwas vernünftiger wirkte.
„Ich nehm ein Bier für den Anfang." Mit einem fast schon entschuldigenden Gesichtsausdruck nickte er mir zu. Ich erwiderte es und stellte mich an meinen Platz hinter der Bar zurück, um die Getränke vorzubereiten.
Also perfekte Balance, ja? Und weshalb sehe ich dann in letzter Zeit nur noch Schatten, keine Lichter mehr? Ist meine Seele aus dem Gleichgewicht geraten?, griff ich das Gespräch mit dem Ding in meinem Kopf wieder auf.
Ja und nein. Die längste Zeit lag es daran, dass die Lichter einfach immer weniger geworden sind. Menschen mögen Probleme. Freude und Glück wissen sie nicht zu schätzen, wenn sie sich diese Gefühle nicht verdient haben. Deswegen besteht das Leben der meisten Menschen aus selbstauferlegten Hürden und Herausforderungen, die Schmerz bereiten.
Ich runzelte die Stirn und warf den beiden Typen nebenbei einen prüfenden Blick zu. Der Grobschlächtige beobachtete mich.
Du kennst das selbst, wirf einfach einen Blick in die Zeitung oder mach den Fernseher an. Nur negative Nachrichten. Oder stell eine Frage in einem Internetforum. In neun von zehn Antworten werden dich andere Nutzer verspotten und beleidigen.
Widerwillig musste ich ihm Recht geben. Oder wenn man online zockt. Ich mach immer den Teamchat aus, fügte ich hinzu.
Siehst du. Menschen lieben den Konflikt. Sie wollen immer das, was wehtut, weil sie sonst nicht glauben, das Gute auf der Welt verdient zu haben.
Ich verzog den Mund, während ich begann, sehr viele Sorten Alkohol für den Long Island Icetea zu mischen. Trotzdem ist das hier nicht Matrix. Ich denke, uns bleiben negative Erinnerungen auch einfach besser im Gedächtnis. Zum Beispiel gerade fällt mir dieser Creep da drüben auf, weil er mich anzüglich angegrinst hat und mich die ganze Zeit beobachtet. Aber sein Kumpel scheint okay zu sein und an den hab ich keine zwei Sekunden gedacht, hielt ich dagegen.
Dreckstück lachte und es vibrierte in meinen Gedanken. Er ist also ein guter Mensch? Warum ist er dann mit so einer Ratte befreundet?
Ich schluckte. Dagegen konnte ich nichts sagen. Und warum kann ich jetzt keine Lichter mehr sehen? Oder alles nur, weil Menschen Arschlöcher sind?
Mein Schatten erklärte: Größtenteils das und weil dir deine Verfolger deine Menschlichkeit genommen haben. Damit ist jedes positive Gefühl, das eines der wenigen verbliebenen Lichter anlocken könnte, gedämpft. Wenn du lachst, dann ist es meist bitter oder aufgesetzt.
Ich presste die Lippen zusammen. Aber meine negativen Gefühle sind auch weniger geworden und die Schatten waren in den letzten Wochen noch mehr als davor.
Ja, das ... Dreckstück schien sich seine Worte zurecht zu legen. Nun, also jemand mit einer reinen Seele ohne Dunkelheit ist für Schatten auf den ersten Blick nicht mehr interessant. Theoretisch. Eine Seele sondert negative Emotionen ab, wenn ihr Fassungsvolumen überschritten wird. Also das, was du an Emotionen ertragen kannst. Deine Verfolger haben deine Seele gereinigt. Sie hatte keinerlei Schattenspuren mehr in sich und damit auch keine Kapazitäten für negative Emotionen. Jede negative Emotion hat deinen Körper sofort verlassen, was Schatten angelockt hat. Er machte eine Pause. Also zumindest, bevor du mich um Hilfe gebeten hast.
Deshalb hatte mein Verfolger also nicht gewollt, dass ich den Schatten aufnahm. Besagte Reinigung war übrigens auch das, woran ich mich nicht mehr erinnerte. Ich hatte es einfach als satanisches Ritual bezeichnet. Aber Reinigung klang auch nicht schlecht. Aber auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, Dreckstück wusste, was passiert war. Trotzdem wollte er mir nicht verraten, was bei dieser ominösen Reinigung vorgefallen war.
Das kann man nicht erklären, antwortete er dann immerzu. Sie spalten deine Seele auf, um die Dunkelheit herauszusaugen. Man stirbt dabei. Gut, war schon eine verdammt gruselige Vorstellung und erklärte auch, warum ich nicht mehr sterben konnte. Anscheinend war ich bereits tot oder sowas in der Art. Trotzdem hatte ich es versuchen wollen. Was für einen Sinn machte das Leben, wenn man ständig auf der Flucht war? Vielleicht sollte ich mich einfach ergeben und Dreckstück entfernen lassen. Ein leiser Instinkt warnte mich jedoch, dass es vielleicht um mehr als nur den kleinen Schatten ging.
Und warum wolltest du unbedingt in meinen Körper? Solltest du nicht auf meiner Schulter hocken und an mir rumnuckeln? Und warum haben die anderen Schatten jetzt doch keinen Bock mehr auf mich?, nahm ich unser Gespräch wieder auf.
Ich war noch nicht fertig!, beschwerte er sich. Deine Seele hat durch die Reinigung ein anderes Gleichgewicht erhalten. Sie besteht jetzt nur noch aus Licht und Blut. Die zwei Komponenten, die man braucht, um ein Lux zu werden. Ein Licht.
Ich kniff die Augen zusammen. Schön, aber ich bin noch hier.
Deine Reinigung ist etwas anders verlaufen, als geplant, zumindest soweit ich das beurteilen kann, erklärte Dreckstück.
Ich war gerade dabei, eine Zitronenscheibe in dem Long Island Icetea zu versenken und hielt inne. Na los, rück' raus mit der Sprache, was haben die mit mir gemacht?!
Normalerweise ist es nicht möglich, eine Seele bis auf den letzten Rest Schatten zu reinigen. Aber deine Seele hatte bereits sehr ungewöhnliche Ausgangsvoraussetzungen, da sie sich im Gleichgewicht befand. Wieder machte er eine Pause. Meine Kunden schienen ungeduldig zu werden, der Größere hatte die Stirn in Falten gelegt und trommelte mit den Fingern auf der Thekenplatte. Der hohe Reinheitsgehalt deiner Seele hat eine enorme Anziehungskraft, sowohl auf Schatten als auch auf Lichter. So eine Seele eignet sich bestens, um sie zu besetzen und als Hülle zu nutzen. Sie hat ein sehr hohes energetische Fassungsvermögen. Aber jetzt, wo ich in dir bin, fresse ich einen Teil deiner negativen Emotionen. Das heißt, du lockst weniger andere Schatten an. Aber auch weniger Lichter, weil dein Fassungsvermögen für positive Emotionen durch die Reinigung gestiegen ist.
Ich knirschte mit den Zähnen. Also hast du dich direkt an die Quelle gezapft, du kleiner Parasit. Hätte ich mich wohl doch exorzieren lassen sollen. Willst du jetzt etwa die Kontrolle über meinen Körper übernehmen?!
Aber nicht doch!, entrüstete sich Dreckstück. Dazu bin ich nicht stark genug.
Mit verzogenem Mund entgegnete ich: Aber deine Herrin könnte es, nicht wahr?
Bevor er antworten konnte, grölte der Widerling an der Theke: „Hey, wo bleiben unsere Drinks? Der Laden ist leer, wozu brauchst du so lange?"
Ich setzte mein Lächeln auf und brachte ihnen die Getränke. „Sorry. Bin noch nicht ganz wach", entschuldigte ich mich und schaute ihm dabei herausfordernd in die Augen. Er funkelte mich an, dann leckte er sich über die wulstigen Lippen und mit einem Mal schnellte seine Hand vor und schloss sich um meinen Oberarm. „Wenn du ein bisschen netter bist, verzeih ich dir vielleicht."
Aus seiner Hose stiegen dunkle Schwaden auf, die auf die pechschwarze Stelle auf dem Boden hinter ihm zukrochen.
Lust an sich ist keine negative Emotion. Aber sie wird zu einer der finstersten, wenn sie sich mit dem Bedürfnis vermischt, Macht gegen den Willen anderer auszuüben, flüsterte Dreckstück.
Mein Lächeln fiel in sich zusammen. Kurz, nachdem ich mein Studium aufgenommen hatte, hatte ich in diesem Laden angefangen. Seitdem hatte ich mir ziemlich viel gefallen lassen und keinen Kunden vergrault. Die Honda musste schließlich bezahlt werden. Aber so wie es aussah, würde ich hier ohnehin nicht mehr lange arbeiten, jetzt, wo ich ständig auf der Flucht war.
„Ich mach dir einen Gegenvorschlag: Du packst nie wieder eine Frau an und ich brech dir nicht die Nase." Mit diesen Worten schnappte ich mir seinen Arm, griff mit der anderen Hand nach seinem Ellenbogen und drehte ihm den im Uhrzeigersinn auf die Thekenplatte. Seine Augen wurden so groß, dass sie ihm beinahe aus den Höhlen fielen und er ächzte überrascht auf. Sein Kumpel sprang auf und hob beschwichtigend die Hände. „Okay, kein Grund auszurasten, er hat nur Spaß gemacht, nicht wahr, Dinesh?"
„Jetzt ist es kein Spaß mehr!", knurrte der Angesprochene und ließ sich mit seinem ganzen beachtlichen Gewicht vom Stuhl fallen. Es sah zwar erbärmlich aus, führte aber dazu, dass ich ihn los ließ.
Er brauchte kurz, um seine geschätzten 130 Kilo Muskelmasse wieder auf die Beine zu hieven, doch in seinen Augen blitzte es jetzt voller Wut. Nun stiegen auch schwarze Schwaden aus seinen Ohren und der Nase auf.
„Das wirst du bereuen, du kleine Schlampe!", zischte er und war schon dabei, die Theke zu umrunden.
Kurz bevor er sich auf mich stürzen konnte, holte ich aus und versetzte ihm einen Tritt in die Magengegend. Dan hatte den Boden wohl vor nicht allzu langer Zeit gewischt, denn dieser Sack landete auf seinem Hintern und schlitterte durch den Schankraum. Ich hob die Fäuste vors Gesicht. Die Kickbox-AG. Sehr empfehlenswert. Und weil ich keine Freunde hatte, hatte ich viel Zeit fürs Training.
Guter Tritt, kommentierte Dreckstück wie ein Fernseh-Moderator.
„Komm Dinesh, wir gehen", quiekte sein Kumpel und half ihm auf die Beine. Doch der schubste ihn zur Seite. „Ich mach dich fertig!", brüllte er mich an und kam auf mich zugestürmt.
„Ha!", machte ich und grinste. „Wenn eine Frau nicht auf dich steht, versuchst du also, sie zu verprügeln?"
Er holte aus. Wie in Zeitlupe flog seine Faust auf mich zu und ich duckte mich weg. Er strauchelte, als er das Gleichgewicht verlor. Ich versetzte ihm den Tritt in den Arsch, den es brauchte, damit er mit dem Gesicht voran in die Theke krachte. Seine Nase knackte, als sie brach. Er schrie auf.
„Ich hab's dir ja gesagt", flötete ich. Blut tropfte auf den Fußboden.
„Jetzt muss ich wischen, bevor mein Chef kommt", brummte ich und packte ihn am Kragen, um ihn von der Bar wegzuziehen. Nicht, dass der noch ein paar Gläser zerbrach. „Wobei das eigentlich seine Lieblingsfarbe ist, blutrot."
„Du bist doch total krank, du Psychotante!", heulte sein Kumpel. Mittlerweile tropften Schatten aus allen Öffnungen meines Angreifers, so dicht und schwarz, dass ich eine Gänsehaut bekam. Er flüsterte irgendwas.
„Was willst du?", grunzte ich und versuchte, sein Gesicht hinter seiner Hand und dem ganzen Blut auszumachen.
„Ich sagte", grollte er „ich bring dich um!" Erst jetzt bemerkte ich das zerschlagene Glas in seiner Faust.
Scheiße.
Ich wich aus, doch ein brennender Schmerz an meinem Oberarm verriet, dass er mich getroffen hatte. Nun tropfte auch mein Blut auf die Fliesen. Erneut hieb er mit dem Glas durch die Luft, dieses Mal zielte er auf meine Brust.
Keine halben Sachen, was. Ich duckte mich, dann griff ich nach seinem Ellenbogen und kickte sein Bein weg. Und zog ihn zu mir. Seine Augen wurden groß, als er mit voller Wucht in das Spirituosenregal donnerte. Ich war eine Idiotin. Gerade noch hatte ich ihn von den Gläsern weg gezogen und im nächsten Moment mehrere hundert Euro in den Sand gesetzt. Na ja, mein Chef, der Frosch Grenouille, war sowieso ein Arsch. Ein ikonischer Riff schepperte durch die Lautsprecher, bevor Mark Knopfler sich übers MTV beschwerte.
Mein Gegner schrie auf, als er sich mit den Händen aufstützte und sich die Scherben in seine Handflächen bohrten.
Wie ihr vorhin gelesen habt, bin ich die reinste Seele auf dieser verschissenen Erde und dementsprechend könnte meine nächste Handlung auf den ein oder anderen verwirrend wirken. Aber ich setzte meinen Fuß auf seinen Rücken. Und drückte ihn zu Boden, sodass sich das Glas tief in sein Fleisch bohrte. „Now that ain't working, that's the way you do it", feuerte mich der Sänger an.
Bo, mir wird warm ums Herz, zischelte Dreckstück. 
Das ist alles deine Schuld, entgegnete ich. Wärst du nicht in mir, hätte ich sowas nie getan.
Dreckstück kicherte. Rein bedeutet nicht automatisch friedlich.
Ich nickte seinem Freund zu. „Bring ihn raus. Ich ruf euch nen Krankenwagen. Lasst euch nie mehr hier blicken."
Der Typ wieselte zu seinem Kumpel und funkelte mich dabei hasserfüllt an, sodass dunkler Rauch aus seinem Mund austrat.
In dem Moment fiel mir die andere Kundin wieder ein. Die musste sich vor Angst vermutlich ins Kleid gemacht haben. Ich schaute mich nach ihr um und erstarrte.
Sie saß in ihrer Ecke und hatte begonnen, sich die Haare auszurupfen. Und auf ihrer Eckbank hatte sich der Schatten in pulsierende Schwärze verdichtet.
„Oh Shit. Die Schatten haben sie in den Wahnsinn getrieben", murmelte ich. Mit den Augen folgte ich dem Strom, der von der Bank auf den Boden tropfte und sich durch die Fugen schlängelte bis zu der Stelle, an dem sich bereits die Schatten der beiden Männer gesammelt hatten.
Dort, wo zuvor ein dunkler Fleck auf dem Boden geklebt hatte, zogen sich schwarze Fäden in die Luft und umspannten eine bullige Gestalt auf vier Beinen. Immer mehr Dunkelheit sammelte sich um das, was sich dort zusammenbraute.
„Ich glaube, die beiden Typen waren nicht unser größtes Problem", krächzte ich.

Was haltet ihr von Dreckstück? Was meint ihr, hat er vor? Will er Bo helfen oder schaden? Und auf was darf sich Bo jetzt gefasst machen? :D

Lux - Krieg zwischen Licht und SchattenWhere stories live. Discover now