Inequity

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Ihr Gesicht war von Tränen überströmt. Obwohl Schluchzer ihren Körper erschütterten, hob sie erneut den Arm und streckte ihre Faust in die Luft, wie hunderte oder gar tausende Menschen um sie herum. Sie hörte die Protestrufe all ihrer Mitstreiter, doch wirklich verstehen tat sie sie nicht. Ihr Kopf war vernebelt von Gedanken, ihr Blick starr auf den Jungen einige Meter von ihr entfernt gerichtet, der gewaltsam zu Boden gedrückt wurde. Sie kannte Kyle. Früher war er für sie nur ein einfacher Klassenkamerad gewesen, doch jetzt waren sie Freunde. Vielleicht wäre daraus sogar noch mehr geworden, doch nun lag er dort, wurde von den Menschen, die ihn beschützen sollten zu Boden gedrückt. Er wand sich im Klammergriff des Polizisten, der über ihm kniete, doch er war wehrlos. Sie konnte sehen, wie sich immer mehr Schweißperlen auf seiner Stirn sammelten.
Wieder riss die Menge ihre Fäuste in die Luft und brüllte den Polizisten ihren Protest entgegen.
Als Kyle sie am Morgen gefragt hatte, ob sie ihn zur Demo begleiten würde, war sie begeistert gewesen. Auch, wenn sie selbst weiß war, so lag ihr das Thema doch sehr am Herzen. Ihr war die unmittelbare Gefahr, die Ernsthaftigkeit nicht bewusst gewesen. Auch, wenn sie selbst in Sicherheit war, lag ihr bester Freund nun dort und war dem Tode geweiht. Sie war sich sicher, dass er sterben würde, sie sah es an dem Hass in den Augen der Polizisten. Wieder wurde ihr Körper von tiefen Schluchzern überrollt. Warum war sie so dumm gewesen? Warum hatte sie nicht an die Gefahr gedacht? Es war ihre Schuld, wenn Kyle starb.
Mit jedem Mal, dass die Menge ihre Faust hob, schienen die Polizisten wütender und hasserfüllter zu werden. Die Blicke mit denen sie auf die Masse schauten, sprühten gerade so von Abscheu. Sie verstand nicht, wie Menschen so grausam sein konnten. Was änderte die Hautfarbe eines Menschen? Worin unterschieden sich Dunkelhäutige von Anderen?
Die Sklaverei war vor etlichen Jahren abgeschafft worden und doch sahen viele Menschen, wie diese Polizisten ihre Mitbürger als minderwertig an.
Eine unglaubliche Wut überrollte sie. Eine Wut auf diese Polizisten, eine Wut auf alle, die genauso dachten und eine Wut auf diese Welt dafür, dass es noch immer diese Ungerechtigkeit gab.
Seit die Polizisten sich Kyle geschnappt hatten, hatte sie wie erstarrt da gestanden, zu geschockt und zu verängstigt um sich zu bewegen, doch nun gab die Wut ihr Kraft. Sie würde nicht zulassen, dass diese Monster Kyle einfach so töteten. Sie hatten kein Recht dazu sein Leben einfach so auszulöschen.
Mit zitternden Fingern zog sie den Reißverschluss ihrer Umhängetasche auf und zog ihr Handy hervor. Sie öffnete die Kamera und begann zu filmen. Wackelig richtete sie die Kamera auf das Geschehen vor ihr. Mit kleinen vorsichtigen Schritten näherte sie sich den Polizisten. Hier und da musste sie sich zwischen den Menschen hindurch drücken, doch die meisten wichen von selbst zurück.
Nun stand sie dort. Er war nur noch zwei oder drei Meter von ihr entfernt, als er sie erblickte, hielt er schlagartig auf zu zappeln und sah sie an. Er schien sagen zu wollen: „Geh, bring dich in Sicherheit!“, doch sie ignorierte die Bitte in seinem Blick. Sie würde ihn nicht zurück lassen. Sie würde kämpfen.
Zitternd holte sie tief Luft und wischte sich dann die Tränen vom Gesicht. Einer der Polizisten sah sie warnend an, doch trotzdem trat sie noch einen Schritt vor.
„Geh zurück, Mädchen!“, schnauzte der Polizist, der Kyle am Boden hielt.
Das Herz wummerte in ihrer Brust. Die Angst, die sie verspürte, war nicht in Worte zu fassen.
„Nein!“, rief sie. Die umstehenden Menschen hatten aufgehört zu rufen. Sie sahen ihr gespannt zu, einige folgten ihrem Beispiel und zogen ihr Handy hervor.
„Pack das Handy weg!“, rief der Beamte, der ihr am nächsten war, doch sie dachte gar nicht daran.
Erneut war ihr Gesicht überströmt von Tränen, die Hand in der sie das Telefon hielt, zitterte. Einer der Polizisten kam auf sie zu gestürmt und riss ihr das Handy aus der Hand. Mit einem widerlichen Knirschen donnerte es auf den Boden. Der Mann nahm ihre Arme und drehte sie auf ihren Rücken. Der Griff mit dem er sie festhielt kam einem Schraubstock gleich. Sie hatte sich geirrt. Sie würde nicht sterben, aber sicher war sie trotzdem nicht. Sie war eine von ihnen.
Ein paar Menschen brüllten dem Polizisten, der sie festhielt Beleidigungen entgegen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Kyle nicht geholfen hatte. Nun war sie wirklich an seinem Tod schuld. Die Menge begann zu toben und nur einige Augenblicke nachdem ihr der erschreckende Gedanken gekommen war, hörte sie den Schuss. Sie sah ihn nicht, aber sie hörte seinen Schrei. Sie hörte die Schreie der Menge und sie wusste, es war zu spät. Die Kraft wich aus ihr und sie sackte der Boden. Der Polizist, der sie eben noch gehalten hatte, ließ sie einfach liegen. Mit letzter Kraft drehte sie ihren Kopf in die Richtung von Kyle und als sie ihn sah, entwich ein lauter Schrei ihrer Kehle. Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie hatte ihn verloren. „Ich liebe dich K.“, murmelte sie, dann schloss sie die Augen und weinte stumm, schloss die Welt aus ihren Gedanken aus.

Inequity | blmWhere stories live. Discover now